Warum der Enthüller etwas verbirgt

20.06.2012 17:10

Magrittes Philosophie im Schlafzimmer

Als Konsequenz für die falsche Scham und die Tabuisierungen, die in den Jahrhunderten der jüdisch-christlichen Zivilisationen die Subjekte, ihre Körper und ihren Geist besetzt hielten, gaben sich Künstler und die Künste verstärkt den sublimierten, gebrochenen Darstellungen, den Zweideutigkeiten und raffinierten Verhüllungen hin. Trotz Verbote und strenger Sittlichkeitsregeln entfaltete und verbreitete sich die Erotik in der Kunst immer mehr und hielt sogar Einzug in die Universitäten und Museen. Als Effekt moralischer und sittlicher Verfolgung bildeten sich innerhalb der Kunst die Themen Abstraktion und Fetisch, Entfremdung und die Verdinglichung der Subjekte heraus, analog zu Kapitalismus und Krieg, Kommunismus und Kritik. Diese Art Todestrieb/Thanatos innerhalb der Kunst, beispielsweise im Werke des Dadaisten Hans Bellmer, beim Pop-Art-Künstler Tom Wesselmann oder beim Dekonstruktivisten Gerhard Richter vertreten, verstehe ich hier als (perverse) Abspaltung von einem universellen Lebenstrieb/Eros, so wie Hoffnung sich nach einer Enttäuschung in Zynik verwandeln kann.

 

Der universelle Eros gab sich ursprünglich nach dem Ideal des 'Edlen Wilden' selbstverliebt, gefühlvoll, unschuldig und unverhüllt, was später von den Romantikern wieder aufgegriffen wurde, mit ihrer erneuten Hinwendung zu Natürlichkeit, Anmut, Schönheit und Hingabe. In der künstlerischen Moderne führten dann Dialektik, Realismus und die Reaktion auf die Wucht der konstruktivistisch-futuristischen Welteroberung zur Abkehr von humanistischen Idealen, von der Liebe und von Utopien. Ent-Täuschung macht sich breit, Verzweiflung, Einsamkeit und Spezialisierung.

 

Sind wir nicht auch alle zu Fetischisten geworden, indem wir die Liebe verdinglicht und Vorlieben für bestimmte Körperteile entwickelt haben. Die einen bevorzugen Augen, die Lippen oder die Haare, andere lieben Beine, Brüste, Füße oder Po. Für Sigmund Freud sind wir ja ohnehin polymorph-pervers veranlagt, wenn wir auf die Welt kommen. Spezialisierungen, individuelle Ausprägungen oder Annäherungen an die Normalität festigen sich dann erst später durch den Einfluss der Eltern und der Umwelt. Die Kunst ist voll von den offenen und versteckten Obsessionen der Kulturmenschen und ihrer ewigen Suche nach sich selbst. Die Künstler haben ihre besonderen Vorlieben wie andere Leute auch, mitunter arbeiten sie sich ihr Leben lang ab an bestimmten Lieblingsthemen oder rücken bestimmte Details in den Fokus des Betrachters oder suchen gar Konfrontation und Provokation im grellen Licht der öffentlichen Meinung, wozu sich Erotik und Sexualität, wie wir wissen, vorzüglich eignet.

Es gibt Künstler, die bei einer Frau nur an das Geschlecht zu denken scheinen, wie Gustave Courbet mit seinem Jahrhundertwerk "Der Ursprung der Welt" oder wie bei den zahllosen, unschuldig-schamlosen Modellen, die Egon Schiele gerne mit gespreizten Beinen malte. Viele Künstler wiederum wichen auf das Doppeldeutige aus, fanden für das Geschlechtsteil der Frau einen metaphorischen Ausdruck und verwandelten die Vulva, bzw. Vagina in eine Blume, ein Tier, eine Frucht oder in eine landschaftliche Formation. Seit dem Altertum hat auch das männliche Geschlechtsteil seine Verehrer, von Albrecht Dürer bis Robert Mapplethorpe, von Pablo Picasso bis Jean Cocteau, von Georg Grosz bis Andy Warhol. Die Verehrer von üppigen Frauen sind zahlreich, wie Rembrandt, Aristide Maillol oder Pierre-Auguste Renoir oder gehen sogar ins Monumentale mit Nicki de Saint Phalle, Salvatore Dali, Richard Lindner oder Botero. Mehr dem Mageren dagegen scheinen Otto Dix, Christian Schad oder Alberto Giacometti zugeneigt zu sein.

Einen weiteren Fetisch des Geschlechtlichen bildet die Behaarung, wie bei Rubens "Pelzchen", die Leopold Sacher-Masoch zu seiner "Venus im Pelz" inspirierte, bis hin zu den Pelztassen von Meret Oppenheim. Die Pädophilie wiederum bringt jene Erwachsene in Wallung, die sich für kleine Knaben oder Mädchen begeistern, unter anderen Caravaggio, Egon Schiele, Otto Müller, Ernst Heckel oder Jeff Koons. Michelangelo, Salvatore Dali oder Francis Bacon fühlen sich zum männlichen Akt hingezogen, während Balthus, Frida Kahlo und Cindy Sherman in Sapphos Bann stehen. Auch der Fetischismus von Kleidung und Tätowierung hat eine große Anhängerschaft. Accessoires, Wäsche, Spitzenhandschuhe und schwarze Strümpfe dienten vielen zur Inspiration, denken wir an Toulouse-Lautrec, Edgar Degas und Felicien Rops, Man Ray, Max Beckmann, Hans Bellmer, Allen Jones oder Amedeo Modigliani.

Heißt das nun, dass es seit den Anfängen der Kunst und bis zu unserer Zeit im Bereich der Sexualität nicht wesentlich Neues ergeben hat, ausser neuer Techniken und der Art und Weise, wie man mit Formen und Farben umgeht? Müssen wir immer noch von einem traditionelle Rollenbild ausgehen, bzw. von althergebrachten Geschlechterklischees, nämlich dem Frauenraub des Künstlers und der Hingabe des Modells? Hat sich der Mann im Laufe der Jahrhunderte nicht aufklären lassen und in seiner Beziehung zur Frau, zur Kunst und zur Sexualität nicht verändert, und ächzt Gleichberechtigung und erotische Kultur immer noch unter dem Joch von Unwissenheit, Naivität und konsumtiver Verdummung?
 
Der Eindruck erhebt sich, dass sich die sexuelle Zweipoligkeit des Menschengeschlechts mit all ihren spaltenden und gleichmacherischen Konsequenzen immer noch im Erprobungsstadium befindet, wenn auch wieder davon gesprochen wird, dass eine positive Wendung hin zu einer Ära der gegenseitigen Akzeptanz nicht mehr fern sei. "Damit die Vulva ihr Recht zur künstlerischen Selbstbehauptung erhält", schreibt Gérard Zwang in seinem Buch "Das Geschlecht der Frau", "müssen der Frau von der Gesellschaft dieselben Rechte zuerkannt werden, wie dem Mann, auch in sexueller Hinsicht. Eine Grundbedingung dafür ist die Verweltlichung der Sitten und Umgangsformen, wenn das auch nur der Anffang ist."

Die Künstler sind gestern wie heute unverbesserliche Machos geblieben, die der Frau nicht das Recht zur Initiative zugestehen, ebensowenig das Recht ihren Willen zu bekunden, Entscheidungen zu fällen zu handeln. Vielmehr ist die Frau, die zu allen Zeiten und zu aller Gefallen die beherrschende Rolle in den plastischen Künsten gespielt hat, nur ein Objekt des Begehrens gewesen, eine aufblasbare Puppe, mit der der Künstler machen konnte, was er wollte. Ob als Pin-Up bei Warhol, Dienerin bei La Tour, exotische Frucht bei Gauguin, Landschaft bei Masson, als Puffmutter bei Boucher, als billige Dirne bei Toulouse-Lautrec oder im Badezimmer bei Tom Wesselmann, der Anbruch der Moderne hat der Frau in der Kunst kaum Gewinn gebracht. Eher hat sich die Kunst daran gemacht, den schönen Körper der Frau nach und nach zu zerstören. Was als Inbegriff der Schönheit galt, hat man in schematische Darstellungen umgewandelt, man hat ihn vereinfacht, abstrahiert, verlängert, abgeflacht, aufgeblasen oder zur Explosion gebracht. Man kann hin und her schwanken zwischen dem Spindeldürren und dem Aufgedunsenen, dem Monster und dem Biest. Nur eine ausgleichende, sanfte, einfühlsame Erotik hat die Macht, die weibliche Darstellung vor diesen "kafkaesken Verwandlungen" zu bewahren. Durch die sublime Erotik wird der weibliche Körper in jenen sicheren Grenzen gehalten, die sie von den anderen Bereichen trennt, den Welten des Pflanzlichen, Tierischen oder Technischen, oder was sonst noch so den Menschen zum Abbild animiert.

Dem Sexualforscher Magnus Hirschfeld (1868-1935) zufolge, für den alle Männer und Frauen je einzigartige Mischungen aus männlichen und weiblichen Eigenschaften darstellen, fühlen sich bei 1000 Männern nur 350 von dem gänzlich nackten Körper einer Frau angezogen, ca. 400 würden ihn sich halb bedeckt wünschen und 250 empfinden die stärkste Anziehung, wenn der Körper vollständig bekleidet bliebe. Somit hätten 65% der normalen Männer fetischistische Tendenzen, meint Hirschfeld gemäß der orthodoxen psychoanalytischen Theorie, wonach jegliche spätere Verschiebung des ursprünglichen Triebziels nach einem natürlichen/nackten, geschlechtsreifen, gegengeschlechtlichen Körper, schon eine Perversion darstellt. Diese Quote hat sich seit den Tagen des kontroversen Pionieres der Homosexuellenforschung und mit dem herauf dämmernden Medienzeitalter sicherlich geändert, bzw. noch weiter verdichtet, hin zu einem Fetischismus einzelner Körperregionen oder Geschlechtsteile, den Entsubjektivierung und Warencharakteristik des aggressiv-pornografischen Signifikats innerhalb der kapitalistischen Kultur zunehmend geprägt haben.

Kleidung spielt eine zweiffache Rolle. Das ständige Tragen von Kleidungsstücken verhindert, dass der Körper einer wandelnden Zurschaustellung gleicht und zugleich stachelt er die Neugierde an. Der Akt des Entkleidens wiederum ruft einen erotischen Anreiz hervor. Missionare und Kolonialisten waren überrascht, als sie auf nackt lebende Eingeborene stießen, die ihren Frauen zuerst nicht erlauben wollten, sich außerhalb von Festen Kleidung anzuziehen. Würden sie das tun, wären sie noch schöner und würden von den Männern aus den Nachbardörfern begehrt. Ein Missionar schreibt nachdenklich: "Indem die einst nackten Körper bedeckt wurden, hat man zum moralischen Niedergang der Eingeborenen beigetragen und eine ungesunde Neugier heraufbeschworen, die es zuvor nie gegeben hatte."

Nirgends gibt es Sexualität und Erotik ohne Tabus. Selbst bei der Pornografie herrscht das Tabu der Liebe und der Langsamkeit. Der Mensch erfindet immer neue Tabus um das Interesse auf andere Objekte zu richten und Absatzmärkte zu reformieren. Religion, Werbung und Propaganda versorgen die Menschen mit einer Fülle aus Verlockungen, Verboten, Verwirrungen und Moden, die Tabus zementieren und neue Hoffnungen suggerieren. Mit einem einfachen Kleidungsstück hat es der Mensch verstanden, sich ein Regulativ zu schaffen, einen Mechanismus zur Dosierung, der es ihm gestattet, beinahe nach Belieben sein Begehren zu entzünden oder auszulöschen, wie man es mit einer Lampe machen kann", schreibt Gilles Néret in einem Essay über die Erotik in der Kunst.

Weiter beschreibt er, dass es zwei Kategorien von Bekleidung gibt: die Arbeitskleidung, die in gewissem Sinne das sexuelle Begehren verhindert, und die Freizeitkleidung, die gerade dazu auserkoren ist, eine Anziehung bei demjenigen zu bewirken, der sie anschaut. Die Kleidung erlaubt, ganz nach Wunsch, den Grad des Verbergens oder der Sichtbarmachung zu dosieren. Diese Dosis bestimmt sich nach dem Grad der Zurückhaltung oder des Exhibitionismus, den der Mensch in seinen Interaktionen bereit ist einzugehen. Darin besteht der Unterschied zwischen dem Arbeiter, der sich mit seinem Anzug schützt, und der Animierdame, die damit mehr zeigt, als sie verbirgt, und die darüber hinaus so einige Verheißungen und Erwartungen zu wecken sucht.

Die Kleidung als zweite Haut hat schon immer die Künstler fasziniert, die durch gekonnte Handhabung ihres Pinsels oder Stiftes in der Lage waren, das doppeldeutige, changierende, ineinander fließende dieser beiden mythologischen Stoffe darzustellen. Das Erotische tritt in Erscheinung, die Wunschphantasien und Begierden werden entfesselt, da ja Körper und Kleidung eins werden und Fleisch und Stoff miteinander verschmelzen. Von den scheinbar unschuldigsten Porträts von Henry Matisse oder J.A.D. Ingres wurde gesagt, daß ihre Gestalten den Eindruck erwecken, als würden sie jeden Augenblick nackt aus ihren Kleidern springen, oder auch, dass das Kleid gleich herabfallen, sich auflösen und damit triumphierend die nackten Körper zum Vorschein bringen würde.

Egal bei welchem Künstler, immer wieder steht der Betrachtende vor dem Phänomen, welches das gemeinsame Schicksal all jener Frauenporträts zu sein scheint, die ebenso im Hinblick auf das Nackte, als auch auf den höchsten gestalterischen Ausdruck hin ausgelegt sind, dass es ein "obskures Objekt der Begierde" ist, dass der Künstler als Enthüller uns Voyeuristen vorführt. Sind sich diese weiblichen Körper, die je nach Geschmack wunderbar oder monströs sind, der Begierde bewusst die sie auslösen, oder geben sie sich damit zufrieden, dass sie existieren, einfach natürlich da sind oder dass sie da sind, um eine Aufforderung an unser Unbewußtes zu richten. Gilles Néret: "Die dargestellten Figuren sind möglicherweise unwissend wie bei Klimt oder Manet, die Maler sind jedoch niemals unschuldig, wenn sie den Betrachtern diese Bilder vor Augen führen, die aus der Flammenhölle der Begierde und aus den Tiefen ihrer Wunschvorstellungen kommen."

Kleidungsstücke, die sich besonders gut eignen, um die geheimen, unbewussten Wunschvorstellungen der Künstler zum Ausdruck zu bringen, sind nicht nur die Dessous, welche sicherlich den direktesten Hinweis auf die sie verbergenden Primärobjekte liefern. Auch Bettkleider, Korsetts, Krankenschwesterkittel, Strümpfe, Uniformen, oder Accessoires wie Strumpfhalter, Gürtel, Reissverschlüsse, Schuhe oder Tätowierungen bieten sich an, um die unendlichen Variationen im Spiel zwischen Begehren und Tabus darzustellen. Die Wunschvorstellung Pelz, die uns viele Künstler präsentiert haben, bis hin zu den Fotografien von Helmut Newton, verdankt ihren Fetischcharakter nach Sigmund Freud vor allem ihrer Analogie mit unseren Schamhaaren, die wiederum als gewaltiges Tabu (bspw. in Japan und vielen orientalischen Kulturen) betrachtet werden können, möglicherweise, weil sie den Menschen an seine Abstammung vom Tiere gemahnen.

Das Erotische in der Kunst besteht für die Künstler darin, so wie es die Surrealisten bis ins Extrem ausgeweitet haben, mehrere ihrer Wunsch- oder Lustobjekte einschließlich des menschlichen Körpers in ihren Bildern zu versammeln, damit sie sich gegenseitig in Kontrast setzen, um damit einen Hinweis auf die inneren Widersprüche der Erotik zu geben. Die Fetische können aber auch miteinander korrespondieren und sich ergänzen, bis sich die Erotik so weit verdichtet hat, dass sie auch beim Betrachtenden spürbar ist, als sei er der erregte Verführte. Freud hatte gezeigt, dass letztlich alle Objekte dazu geeignet sind, mit einer erotischen Wunschvorstellung belegt zu werden, und viele Künstler wie Allen Jones, Richard Lindner, Marcel Duchamp oder Claes Oldenburg haben nicht gezögert, herauszuarbeiten, dass alle Objekte letztlich durch ihren zeitgemäßen Gebrauch und ihr Umfeld, dem wiederum die Mechanismen unseres Begehrens zugrunde liegen, zu Objekten unserer Liebe, aber auch unseres Hasses avancieren können. Wie Lautréamont sagte: "Schön wie die zufällige Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch."

tl_files/liebreiz/bilder/allgemein/Otto Mueller - Liebespaar.jpg

Otto Mueller - Liebespaar

Zurück