Punk-Ikone Linder & Outsider-Artist Rachel Harrison in Hannover

06.06.2013 15:02

Linder Sterling - o.T. (1977)

Die eine kombiniert Fotos aus Pornomagazinen mit Schnipseln aus Hausfrauenzeitschriften: Linder Sterling - genannt Linder - beschäftigt sich seit vier Jahrzehnten mit Rollenklischees. "Ich habe dabei ein wissenschaftliches Interesse", sagte die britische Künstlerin vor der Eröffnung ihrer großen Retrospektive in Hannover. Die 58-Jährige war in Manchester eine Schlüsselfigur des Punk und Post-Punk. Schon 1982 - ein Vierteljahrhundert vor Lady Gaga - provozierte sie als Sängerin der Band Ludus in einem Kleid aus Schlachtabfällen. In ihrer Ausstellung "frau/objekt", die zuvor in Paris Station gemacht hat, ist nun erstmals auch ein Film dieses legendären Auftritts zu sehen. Die andere Künstlerin - Rachel Harrison - gilt mit wuchtigen, oft aus Abfall oder Fundstücken hergestellten Skulpturen als Ikone der Bildhauerei und Outsider-Art.

 

 

 Linder Sterling (*1954, Liverpool) umfasst mit ihrer künstlerischen Praxis die Bereiche Kunst, Musik, Tanz und Mode. Dabei vereint sie unterschiedliche Medien wie Collage, Fotografie, Video und Performance. Dem damaligen, kritischen Zeitgeist entsprechend hinterfragt die Künstlerin mit einem kompromisslosen, feministischen Ansatz, die sozial kodierten Geschlechtervorstellungen und die sexuelle Vermarktung des weiblichen Körpers.

"frau/object" - PostPunk und Frauenpower

Seit den späten 70er-Jahren, als die Fanzine-Kultur blühte, bedient sich Linder aus dem unerschöpflichen Bilderfundus illustrierter Haushalts- und Pornomagazine, die sie in ihren an Dada anknüpfenden Collagen neu zusammenfügt. Die Konstruktion gesellschaftlicher Identitäten spiegelt sich in den Selbstinszenierungen Linders, sei es als Gegenstand ihrer Selbstporträts in fotografischen Arbeiten oder in musikalischen und choreographierten Performances, die sie für Museen und Bühnen entwickelt.

Anfang der 80er war Linder in Manchester eine Schlüsselfigur der kulturell explosiven Momente des Punk und Post-Punk mit Bands wie Buzzcocks, Magazine, Joy Division, The Smiths und Morrissey, mit dem sie bis heute ein künstlerischer Austausch und eine enge Freundschaft verbindet. 1978 war sie Mitbegründerin der Post-Punk-Gruppe "Ludus", deren Sängerin sie bis zur Auflösung 1983 war. Mit ihrem bitter-scharfem, kritischen Jazz-Punk wurde sie damals schnell zum Kultstar, in der für kreative, selbstbewusste Frauen so wichtigen Zeit, zusammen mit Punk-Epigoninnen wie Laurie Anderson, Lydia Lunch, Siouxie & The Banshees, Lene Lovich, Toyah Willcox, den Slits und vielen anderen.

Für Furore sorgte 1982 ihr Auftritt in dem besagten Kleid aus Geflügelresten, unter dem sie einen Dildo umgeschnallt hatte. Eine ihrer bekanntesten Arbeiten wurde das legendäre Platten-Cover der Buzzcocks-Single "Orgasm Addict", welches eine nackte Frau mit grinsenden Mündern auf den Brüsten und einem Bügeleisen anstelle des Kopfes zeigt. International bekannt wurde Linder in den letzten Jahren durch Präsentationen in bedeutenden Institutionen wie dem ICA London, der Tate, der Kunsthalle Oslo oder mit einer Einzelausstellung im MoMA PS1, New York.

"Fake Titel" - Readymades und Zwischenfälle

In einer großen Einzelausstellung zeigt Hannovers Kunsttempel 'kestnergesellschaft' auch neue Werke der US-amerikanischen Künstlerin Rachel Harrison (*1966, New York). Sie zählt zu den einflussreichsten Bildhauerinnen ihrer Generation und kann der sogenannten Outsider-Art zugerechnet werden. In ihrer Ausstellung "Fake Titel" werden Skulpturen und Zeichnungen der Serie "The Help" (2012), die großformatige Installation "Incidents of Travel in Yucatan" (2011) sowie die fotografische Arbeit "Sunset Series" (2012) gezeigt.

Die Arbeiten der "Help"-Serie zeichnen sich durch ihren innovativen Umgang mit Duchamps Readymades und ihren subversiven Humor aus. Harrison kombiniert gefundene Gegenstände, die oftmals aus dem Haushalt stammen, mit von ihr selbst gefertigten Skulpturen. Ihre farbigen, oft der Menschengestalt ähnlichen Plastiken wecken spielerisch Assoziationen, die vom romantischen Wanderer (Courbet) bis hin zum Harlekin (Picasso) reichen.

"Incidents of Travel in Yucatan" (2011) ist eine großformatige Installation aus Podesten, die Harrison als Wand bezeichnet. Als solche besitzt sie zwei Seiten mit unterschiedlichen Strukturen, glatt und bündig wie eine Fassade einerseits, unterschiedlich und nummeriert wie individuelle Behausungen andererseits. Die Arbeit verknüpft die Entdeckungsreise mit der Kunstgeschichte und thematisiert Kontraste wie Außen/Innen, Standardisierung/Individualisierung, Wettbewerb/Spiel.

Der Sonnenuntergang im Schein einer Taschenlampe

Die Foto-Arbeit "Sunset Series" wiederum zeigt 31 Aufnahmen von Sonnenuntergängen. Diese basieren auf einer einzigen Aufnahme, die Harrison mit einer Taschenlampe aus verschiedenen Winkeln und Distanzen beleuchtete und so die Vorlage erheblich veränderte. Die Serie verweist auf die konzeptuelle Fotografie und verdeutlicht, dass die Wahrnehmung desselben Motivs jedes Mal eine andere ist.

Rachel Harrison wurde 2011 mit dem renommierten Calder Prize ausgezeichnet, der als amerikanisches Pendant zum europäischen Turner Prize gilt. Sie hatte Einzelausstellungen u.a. im Portikus Frankfurt am Main (2009), im Migros Museum in Zürich (2007) und im San Francisco Museum of Modern Art (2004). Auch war sie Teilnehmerin bei internationalen Biennalen, wie der Venedig Biennale 2009 und 2007 sowie der Whitney Biennale 2008 und der Berlin Biennale 2006. Ihre Werke sind u.a. in Sammlungen des MoMA, der Tate Modern, des Guggenheim Museum und des Stedelijk Museum prominent vertreten.

Beide Ausstellungen - Linder Sterling "frau/object" sowie Rachel Harrison "Fake Titel" - können Sie bestaunen bis zum 4. August in der kestnergesellschaft am Steintor in Hannovers City, Di bis So 11-18 Uhr, Do bis 20 Uhr, Mo ist Ruhetag. Infotelefon : +49(0)511-70 120-0.

 

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