Sexuelles Aufbegehren in Istanbul

04.04.2011 12:00

Kuss am Bus

Nachdem ein Busfahrer in der aufstrebenden Kulturmetropole Istanbul kürzlich ein junges Studenten-Pärchen aus einem Linienbus warf, weil sie sich in dem Bus geküsst hatten, haben sich daraufhin ein Dutzend junger Pärchen zu einem "Kiss-In" an dieser Buslinie zusammengefunden, wie die türkische Presse berichtete. Die jungen Leute stiegen in einen der Busse jener Linie und küssten sich ausgiebig bis zur nächsten Bushaltestelle (was lange dauern kann, wie jemand der den Istanbuler Verkehrskollaps besonders zur Rushhour kennt, weiss). Dann stiegen die Demonstranten und Demonstrantinnen wieder aus, ohne behelligt zu werden.

 

Der Protest richtete sich gegen sittenstrenge Busfahrer. Mit den Worten: "Das ist hier kein Sexbus", hatte eben solch ein sittenstrenger Busfahrer das junge Paar aus seinem Bus geworfen. Als sich noch andere Jugendliche einmischten, soll es darauf hin sogar noch zu einer Prügelei gekommen sein. Die Presse berichtete ausführlich und wissbegierig über den Vorfall, was auch ein Zeichen ist, dass dieses sexuelle Aufbegehren durchaus einen großen Nachhall in dem prosperierenden und sich kulturell öffnenden Lande darstellt. Die städtischen Verkehrsbetriebe bemühten sich indes, das Ereignis herunter zu spielen und erklärten, dass gegen den sittenstrengen Busfahrer ein Verfahren eingeleitet worden sei.

Anfang des Jahres wurde berichtet, dass ein Filmstudent der besonders angesehenen und als sehr liberal geltenden Bilgi-Universität in Istanbul, einen Pornofilm als seine Abschlussarbeit auf dem Gelände der Uni drehte. Deniz Özgün hatte zuerst wohl einige Mühe, seine Dozenten von seiner Idee zu überzeugen, da der Film, in dem eine 24-jährige Bekannte des Studenten die Hauptrolle spielte, wohl nicht besonders wegweisend und innovativ angelegt war. Erst als Özgün dem türkischen Magazin "Tempo" von seinem Film erzählte, kam die Affäre ans Licht und wurde der Provo-Regisseur damit quasi über Nacht berühmt. Seitdem wird im Internet fieberhaft nach dem Video gefahndet und in der Öffentlichkeit ist eine hitzige Debatte über Sitte und Liberalität entbrannt. Die drei Dozenten, die die Abschlußarbeit trotz Zweifel zugelassen, aber auch nur als mäßig bewertet hatten, wurden entlassen. Dagegen erhoben sich umgehend Studentenproteste, die zusammen mit der zuständigen Gewerkschaft durchgeführt wurden.

Als ich selber im letzten November in Istanbul war - der Kulturhauptstadt 2010, mit unzähligen künstlerischen und kulturellen Angeboten, war ich schon fasziniert von der Aufbruchsstimmung, der Kreativität und der kulturellen Leidenschaft, mit der vor allem die jungen Leute in Istanbul den Anschluß an die modernen, liberalen, westlichen Maßstäbe suchen. Zum Beispiel sah ich in Istanbul mit "Body Worlds", die große Ausstellung des deutschen Leichenpräparators Gunther van Hagens, bei dieser nun nicht wenige explizite Darstellungen von Geschlechtsteilen oder eines ganzen Liebesaktes zu sehen waren. Auch hierzulande, in Deutschland, hatte van Hagens für oberprüde und den Verfall der Sittten anklagenden Reaktionen gesorgt. Eine Moraldebatte, auch verschoben auf die Herkunft der Leichen, wurde losgetreten und die Ausstellung in vielen Städten verboten - das gleiche übrigens auch in Hannover bei einer ähnlich ausgerichteten Ausstellung auf dem Messegelände.

Ich hatte bei der van-Hagens-Ausstellung in Istanbul nicht den Eindruck, dass sie große Angst und Schrecken verbreiten würde oder sich prüder Protest gegen sie erheben würde. Bei meinem Besuch tagsüber wurden mehrere Schulklassen mit Kindern zwischen 12 und 16 Jahren durch die Ausstellung geschickt, die sich nicht anders verhielten, als es Kinder und Jugendliche hierzulande auch tun würden. Da wird gekichert und getuschelt, klar, aber vielen ist es auch einfach nur langweilig oder so spektakulär wird es dann von ihnen gar nicht wahrgenommen. Jedenfalls kein Anlass, sich hier über einen etwaigen "Einbruch der sexuellen Zwangsmoral" (Wilhelm Reich) zu beklagen.

Die Türkei auf ihrem Weg zu einer vielfältigen, modernen, toleranten und multi-kulturellen Gesellschaft ist natürlich gekennzeichnet von allerlei Widersprüchen zwischen Tradition und Moderne, die auszuhalten und zu synthetisieren den Menschen, die dort leben, so einiges abverlangt. Diese sehr patriarchale, hochmoralische und autoritäre türkische Welt sieht ihre Werte auf konservativer Seite sicherlich als äußerst bedroht an, nicht nur durch das sexuelle Aufbegehren, sondern genauso durch die allgemeine Entwicklung der Progressivität, Mündigkeit und Kritik, mit der die jungen Menschen ihr naturgegebenes Anrecht auf eine bessere Welt nun endlich einfordern.

Dass der kulturelle Fortschritt ohne Rückschläge und Kämpfe kaum zu schaffen ist, und noch einige Zeit dauern und viele unruhige Situationen erleben wird, steht ausser Frage. Verschiedene Ausstellungsprojekte im Rahmen der "Kulturhauptstadt 2010" wurden, zumindest in konservativen Stadtteilen, auch des öfteren Ziel von Anschlägen und Überfällen von fundamentalistischen Geistern. Ähnlich wie in Deutschland zur Zeit der 68er, wird der wahre gesellschaftliche Fortschritt kaum von oben dirigiert, sondern von unten immer wieder mit den innovativsten Mitteln und Ideen eingefordert werden müssen, bis der Mehrwert der Freiheit sich mit breiter Akzeptanz gefestigt hat.

"Gelişigüzel" - Auf gut Glück!

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