"Sex und die Zitadelle" - Liebesleben in der arabischen Welt

27.09.2013 17:10

Gulio Rosati - Tanz im Harem

Die repressive Haltung gegenüber der Sexualität führt in der arabischen Welt heute vor allem zu gravierenden Einschränkungen für Frauen. Während Männern oft noch das Recht auf Polygamie zugestanden wird, herrscht strenge Geschlechtertrennung in der Öffentlichkeit und dürfen sich Frauen nur sehr schwer scheiden. Das sollte mit dem sogenannten 'Arabischen Frühling' alles zum Ende kommen. Eigentlich, doch... All die Frauen die sich an den Protestmärschen beteiligten, deren Mut die Welt bewegte, wurden nach dem Sturz der Diktatoren alsbald wieder zu Bürgerinnen zweiter Klasse degradiert. So tapfer sie auch waren, sie sollen sich weiter mit lebenslänglicher Bevormundung und einem halben Erbteil abfinden. Die Forderung nach Gleichberechtigung, erhoben von den Frauen selbst und von einigen unermüdlichen Demokraten, zählt zu den Verlierern des Arabischen Frühlings. Sie weicht dem Gerangel zwischen Islamisten und ewig-gestrigen Patriarchen, die sich nur in einem einig sind: Die Frau soll im besten Fall bleiben, wo sie war, im schlimmeren Fall noch eine Stufe tiefer gestellt. Dabei war der Orient mitnichten immer so frauenfeindlich eingestellt.

 

"Flaubert fickte sich nilaufwärts" heißt es in dem vielbeachteten Debüt der ägyptischen Autorin Shereen El Feki. Denn: Einst war Europa ein Kerker der Prüderie, während der Orient erotische Libertinage versprach. Heute stimmt das zwar so nicht mehr, dafür pflegt das westliche Feuilleton gerne eine fast arrogante und abfällige Haltung gegenüber dem sittlichen Empfinden anderer. In ihrem Buch plädiert El Feki leidenschaftlich für das Liebesleben in der arabischen Welt und für eine Rückbesinnung auf einen menschenfreundlichen Zugang zur Sexualität, wie er im Islam jahrhundertelang schon gelebt wurde.


Sex und die Zitadelle

"Sex und die Zitadelle" bezieht sich auf die von Saladin 1176 gegen den Ansturm der Kreuzritter errichtete Festung, die über Kairo thront. Shereen El Feki erklärt dieses Wortbild so: "Was die Sexualität anlangt, so könne man meinen, die arabische Welt gleiche einer Zitadelle, einer uneinnehmbaren Festung, deren Außenmauer jeden erdenklichen Angriff auf die Bastion heterosexueller Ehe und Familie abwehrt."

El Feki beschreibt die Geschlechterbeziehungen dieser in sich und ihrer Kultur geschlossenen arabischen Welt, aber auch die Öffnungen in den Mauern, die sie auf Veränderung hoffen lässt. Sie beginnt ihre Erzählungen mit dem Blick eines berühmten Ausländers, eines aufgeschlossenen, nein, lüsternen Fremden: Gustave Flaubert. Der Franzose bereiste Ägypten in der Mitte des 19. Jahrhunderts und verbrachte seine Zeit in Bordellen, bei dicken kaffeebraunen Huren oder lasziven männlichen Prostituierten, bei Striptease und Massagen, oder auf der Syphilis-Station eines Krankenhauses.

Ein Junge schlägt ihm ein Geschäft vor: "Wenn Sie mir fünf Paras geben" - weniger als ein Piaster - "bring ich Ihnen meine Mutter zum Ficken. Ich wünsche Ihnen das Allerbeste, vor allem eine lange Latte. "Heute weiß man: Da war wohl jede Menge lüsterner Projektion Flauberts mit im Spiel, denn Europa war in jenen Tagen ein Kerker der Prüderie und blieb es bis ins 20. Jahrhundert. Der Orient, das absolut Andere, schrieb einst Edward Said, war ein "Ort, wo man sexuelle Erfahrungen suchte, die in Europa undenkbar waren." Verklemmtes Abendland, frivoles Morgenland? Unfassbar heute, aber wahr!


19. Jahrhundert - Entgegengesetztes Tugendgefälle in Europa und Arabien

Vom Imam Rifaa Rafi al-Tahtawi aus Oberägypten wird erzählt. Der fuhr zwanzig Jahre vor Flauberts Ägypten-Besuch auf eine staatlich finanzierte Bildungsreise nach Frankreich. Obwohl er die Tugendhaftigkeit der Französinnen stark schwankend fand, lobte er die französische Verachtung - schon damals, Anfang des 19. Jahrhunderts! - für die Homosexualität. Der Imam schätzte entsprechen der damaligen unbekümmerten Einstellung der Homosexualität gegenüber falsch ein, dass die französische Prüderie vor allem ein kultureller und sittlicher Geschäftsvorteil sei. Einige arabische Denker des 19. und 20. Jahrhunderts vermuteten nämlich, dass die Rückständigkeit ihrer Gesellschaft ihren Grund gerade in der arabischen Libertinage habe: Die Prüderie des Westens, so ihre These, sei eine kalkulierte, selbstauferlegte Disziplinierung, um nicht von gefallsüchtigen, unzüchtigen Gedanken abgelenkt zu werden.

Später ging die Besinnung auf einen vermeintlich "echten" Islam dann einher mit der wachsenden Lustfeindlichkeit. Heute, so die Ironie der Geschichte, ist die verklemmte Sexualmoral in der arabischen Welt ein gängiger Topos der islam- und oft einfach ausländerfeindlichen Propaganda im Westen. Dabei bringt Feki zahlreiche Belege für den Zusammenhang zwischen sexueller Offenheit und kultureller Blüte des Islam. Vor 1000 Jahren diskutierten islamische Geistliche Fragen der Sexualität so konzentriert wie theologische Überlegungen, eine Fülle erotischer Literatur und Dichtkunst erfreute den Hof, aber möglicherweise nicht nur ihn. "Die Ausübung der Sexualität war ein Gebet, ein Sichschenken, ein Akt der Nächstenliebe", zitiert sie den tunesischen Soziologen Abdelwahab Bouhdiba. Sex und Orient so ihre Botschaft, schlossen einander überhaupt nicht aus.

Heute schließen sich Islam und Sexualität radikal aus, zumindest, so weit der Sex die Mauern der "Zitadelle" verlässt - die gesellschaftlich erwünschte, staatlich geförderte, religiös sanktionierte Institution der Ehe. Außerhalb der ausschließlich männlichem Publikum vorbehaltenen Bauchtanz- und Raucherclubs (mit ihrer manchmal latent homosexuellen Stimmung), bleibt Sexualität und Erotik schier aus dem öffentlichen Bild verdrängt. Und selbst unter Verheirateten herrschen oft Unwissenheit, Leistungsdruck und Frustration. Bleibt das so? Oder, so ihre hoffnungsvolle Aussicht, erreichen die politischen Umwälzungen in der arabischen Welt langsam auch das soziale Leben?


Pfeiler der männlichen Welt tief im Urgrund weiblichen Schaffens

Wird das Aufbegehren in der arabischen Welt die patriarchalen Pfeiler erschüttern, in der die meisten Männer - und Frauen - es für angemessen halten, wenn ein Ehemann seine Frau schlägt, weil diese ihm den Beischlaf verweigert. In der nach wie vor bei achtzig Prozent der Frauen die Genitalien verstümmelt sind, weil weibliche Lust als bedrohlich gilt? "Wie wir in den Satellitenkanälen sehen, kann eine Frau mit drei Männer gleichzeitig Sex haben und immer noch nicht befriedigt sein", zitiert El Feki einen jungen Ägypter. Da dächten so einige männliche Jugendliche, Frauen seien nimmersatte Ungeheuer und müssten eingeschränkt werden. So viel zum Modernisierungseffekt der neuen Medien.

El Feki, Tochter einer Waliserin und eines Ägypters, aufgewachsen in Kanada, wohnhaft in London und Kairo, macht keinen Hehl daraus, dass sie sich ihrem Thema mit dem Blick der wohlwollenden Ausländerin nähert, zumal der medizinisch interessierten. Als Immunologin arbeitete sie für eine HIV-Kommission der UN, und ihre Distanz und gnadenlose Offenheit haben bemerkenswerte Ergebnisse zutage gefördert. Sie hat Sexualtherapeuten getroffen und ultrakonservative Scheichs, geschlagene Ehefrauen und überforderte Männer, Schwule, Lesben, Transsexuelle - es war eine Arbeit über Jahre.

Was kann an El Fekis Buch kritisiert werden? Dass es die arabische Welt im Titel führt, aber doch meist nur von Ägypten handelt? Dass El Feki zwar Sinn für Pointen hat, aber die empirische Grundlage sich manchmal auch aufs Anekdotische beschränkt. Dass sie ihre Sprache oft ins Schlüpfrig-Frivole entgleisen lässt: Und westliche Sex-Touristinnen beschreibt sie als "Schwärme von Frauen in den Zwanzigern und Dreißigern", die "in die Gefilde williger junger Recken" einfallen. Aber ohnehin muss man das Buch eher als journalistischen Großessay nehmen denn als wissenschaftliche Studie. Sie schreibt ohne Häme, mit viel Verständnis für die arabische Unkenntnis in sexuellen Fragen (die auch im Westen erst vor kurzer Zeit schwand), gegen eine Kluft zwischen menschlichen Bedürfnissen und schwierigen Moralvorstellungen, die mit repressivem Druck den Alltag der gesamten Region prägt.


Nachricht der erfolgreichen Entjungferung per SMS

Dass die Ehre einer jungen Frau und ihrer Familie von der Jungfräulichkeit in der Hochzeitsnacht abhängt, ist bekannt. Aber dass die Defloration in Ägypten mancherorts quasi öffentlich vorgenommen wird, indem nicht der Bräutigam, sondern eine "Daya", eine traditionelle "Heilerin" im Beisein der Mütter das Hymen mit dem Finger oder einem mit weißem Tuch umwickelten Rasiermesser durchsticht, dürften wenige Außenstehende wissen.

Und wieder zeigt sich, dass Technik allein keinen Wandel erzwingt: Ein Kairoer Anwalt bedrängte seinen Schwiegersohn, "ihm unmittelbar nach der Entjungferung per SMS mitzuteilen, dass seine Tochter erwartungs- und ordnungsgemäß geblutet habe. Der stete Strom von Anrufen und SMS-Botschaften (. . .) machten den Bräutigam derart nervös, dass er am Hochzeitsabend versuchte, seine Braut ins Kino auszuführen." Am Ende schaltete er das Telefon aus - und die Ehe konnte vollzogen werden.

El Feki trifft eine Prostituierte, die sich außerhalb der Arbeit bis zu den Augen verschleiert und darin keinen Widerspruch sieht, und eine andere, die saudische Touristinnen bedient. Sie beschreibt einen Mann, der Viagra als Bakschisch verteilt, und eine Abtreibungspraxis, die sie "Stich und Schlag"-Methode nennt: Die Frau wird mit einer Injektion betäubt und so lange auf Rücken und Bauch geschlagen, bis der Fötus abgeht - oder sie mit einer vermeintlichen Fehlgeburt ins Krankenhaus eingeliefert wird.


Bärtiges Haupt empört sich über Entschleierungs-Tanz

Die islamistischen Profiteure hatten gerade erst ihr bärtiges Haupt erhoben, als das Buch El Fekis in Druck ging. Inzwischen weiß man, dass sich die Hoffnung auf größere Offenheit in Ägypten erst einmal nicht erfüllt, im Gegenteil: Ein Mindestalter für Eheschließungen, Geburtenkontrolle, der Kampf gegen die weibliche Genitalverstümmelung gelten den regierenden Islamisten und ihren noch konservativeren Partnern als westlicher Import, als un-islamisch, ja, un-arabisch - oder aber als Überbleibsel der Mubarak-Ära (und der neuen Militär-Diktatur? - d. Verf.). Zum Glück sind gesellschaftliche Entwicklungen zäh und werden nicht von Diktaturen mal so eben wieder abgeschafft. Das gäbe weiter Hoffnung für die Freiheit der Frauen.

In schwierigen Zeiten, so schreibt El Feki zu Recht, besännen sich die Ägypter jedoch stets auf die Religion, und diese Zeiten sind mehr als schwierig. Andererseits reichen soziologische Entwicklungen tiefer und dauern länger als Legislaturperioden, sogar als Diktaturen. Dass die arabische Welt, also vor allem Ägypten, Sexualvorstellungen wie im Westen entwickelt, hält die Autorin realistischerweise für ausgeschlossen. Aber wenn die Menschen zu jenem menschenfreundlicheren Zugang zur Sexualität zurückfänden, den der Islam ihnen gestattet und den sie über Jahrhunderte gelebt haben, dann wäre ihrer Ansicht nach viel gewonnen. Hoffnung und Trost könne da eher die im Verborgenen gepflegte, ganz im alt-orientalischen Sinne, das Geheimnis und die Intimität bewahrende, private Pflege von Erotik und Sexualität spenden.

Shereen El Feki: "Sex und die Zitadelle". Liebesleben in der sich wandelnden arabischen Welt. Aus dem Englischen von Thorsten Schmidt. Carl Hanser Verlag, München 2013. 416 Seiten, 24,90 Euro.

 

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