Schonungsloser Realismus und das Schicksal des Fleisches

23.11.2011 14:55

Lucian Freud - Selbstporträt

Im Juli diesen Jahres verstarb mit Lucian Freud, dem Enkel des Psychoanalytikers Sigmund Freud, einer der bemerkenswertesten Künstler des 20. Jahrhunderts und, mit seinen zahllosen Porträts und Aktstudien, herausragener Vertreter des künstlerischen Realismus. Sein sezierender Blick und die schonungslose Darstellung des nackten, makelbehafteten Körpers trugen ihm den Titel des "besessensten Malers des Fleisches" ein. Seit Beginn der 60er-Jahre schuf er mit Wucht und dickem Farbauftrag ein faszinierendes, bloß stellendes Werk, mit dem er das Innerste des Menschen in seinem Äußersten, im Fleisch und in der Haut, entdecken wollte. Insofern seinem Großvater folgend, dass er ebenfalls tief in seine Musen einzudringen versuchte, indem er ihre Verletzlichkeit, aber auch ihre Häßlichkeit, ihre Versehrtheit und ihren Verfall thematisierte, wandte er sich jedoch früh von einer psychologisch hintergründigen Sichtweise einem fanatischen Materialismus zu, der Farbe und Stoff als Entsprechungen des Fleisches in den Fokus und mit fast übersteigerten - hyperrealen - Merkmalen in Szene setzte.

 

Der klassische Realismus bezeichnet eine in der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzende Kunstrichtung, die sich bewusst gegen die idealisierende und historisierende Darstellungen des Klassizismus und der Romantik wandte. Ihr bekanntester Vertreter war damals der französische Maler Gustave Courbet (1819-1877), welcher sich den noch sehr unscharf und ungenau definierten Begriff der realistischen Kunst aneignete und ihn wegen seiner provokativen Wirkung für seine Kunst verwandte. Die entblößenden Inhalte seiner Werke wirkten prägend auf den Begriff „Realismus“. Das Hauptanliegen Courbets war es dabei, aus der Kenntnis der künstlerischen Tradition und der eigenen Individualität schöpfend, lebendige und authentische Kunst zu schaffen. Den herrschaftlichen, verklärenden Idealismus seiner Zeit ablehnend, galt Courbet bald als das „Gesicht“ des Realismus. Für ihn war der Realismus eine ihrem Wesen nach demokratische Kunst, welche die „Verneinung des Ideals“ und die „Selbstbefreiung des Individuums“ beinhaltet.

Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Begriff Realismus programmatisch in Frankreich verwendet, zu deren Wortführern u.a. die Schriftsteller und Kunstkritiker Jules Champfleury und Edmond Duranty avancierten. Sie verteidigten den Realismus als eine positive Wiedergabe der modernen Gesellschaft (der sich entfaltenen industriellen Revolution). Dabei wandten sie sich gegen eine klassizistische und romantische Normierung des Schönen und bekundeten ihr Interesse an den wahrhaftigen Lebensbedingungen der Unterschicht. Wie Courbet ging es beiden um eine Kunst des So-Seienden, die erstmalig eine politische Dimension mit in ihre Kunstdefinition einbezog.

Beißende Kritik daran äußerte beispielsweise der Schriftsteller und Dichter Friedrich Schiller. „Bleibt [der Dichter/Künstler] bei der Wirklichkeit stehen, wird er realistisch und, wenn es ihm ganz an Phantasie fehlt, gemein.“ Schillers Kritik eines mimetischen (nachahmenden) Weltbezugs knüpfte an die damals vorherrschende Vorstellung an, dass die Schönheit, die in der Antike noch erfahrbar gewesen sei, aus der modernen Lebenswirklichkeit verschwunden ist. Aus der Vorstellung, dass die Gegenwart nicht „schön“ wie die Antike sei und dementsprechend nicht exakt dargestellt werden sollte, folgte seine Mimesis-Kritik. Basierend auf der platonischen Kritik einer puren Nachahmung der Natur hatte sich schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Idee verfestigt, dass Kunst nicht bloße Repräsentation, sondern eine schöpferische Transformation von Wirklichkeit sein solle. Der Kritikpunkt bloßer Nachahmung verfehlte indes das Konzept und die eigentliche Ausführung realistischer Kunst, die sehr viel dialektischer ausgerichtet war. Solche Kritik sollte vielmehr auf den damaligen Naturalismus angewandt werden.

Schon damals schimmerte in der provokativ groben, schonungslosen Transparenz des dargestellten Seins, eine Art Hyperrealismus menschlicher Erfahrung und Existenz durch, der sich Anfang des 20. Jahrhunderts, durch den Schock der Moderne, in einer Übergenauigkeit von Laster und Leid Ausdruck zu verschaffen suchte. Beispielhaft dafür sind die ätzenden und beißenden Realismen der Künstler des sogenannten Verismus oder Neuer Sachlichkeit im Berlin zwischen den Weltkriegen, Otto Dix und Georg Grosz, die sich mit engagiertem und analytischem Sarkasmus, mit Radikalität und warnendem Zynismus, gegen die sich ausbreitende Militarisierung und Verdinglichung des Alltags zur Wehr setzten. "Wir alle wollen die Welt ändern", begeisterte sich der Dichter René Schickele, "wir alle wollen Gerechtigkeit". Und diese Veränderung und Gerechtigkeit müsse, um in dieser zusehens anonymer, technischer und unmenschlicher werdenden Welt, zunehmend radikal sein.

Durch die schlimmen Erfahrungen aus Kriegen und Katastrophen hatten die Künstler nun eine radikale Erkenntnis der Welt gewonnen, die in ihrer puren Fleischlichkeit, in ihrer obszönen ungeschützten Nacktheit vom Verlust der Heiligkeit und Sinnhaftigkeit der Welt kündet. Die Unschuld ist verloren, der Natürlichkeit der düngende Boden unter den Füßen weggerissen. Der Himmel ist eingestürzt und der verlorene Leib des Einzelnen, Einsamen, ist nurmehr ein Kadaver, zerschunden, zerstückelt, bar der Hoffnung und des Heils. Die Ideale von Schönheit, Kraft, dem Erhabenen und der Heldenhaftigkeit würden fürderhin die Faschisten und Nazis, die Stalinisten und anderen Diktatoren und Menschenverächter der Weltgeschichte für sich vereinnahmen. Ein Sujet für die Welt ändernden Künstler jedoch würden diese Ideale nie wieder sein.

Lucian Freud (* 8. Dezember 1922 in Berlin; † 20. Juli 2011 in London) war der Sohn von Ernst Ludwig Freud und Lucie Freud und damit der Enkel des Psychoanalytikers Sigmund Freud. Im Jahr der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 emigrierte er mit seiner Familie nach England und wurde 1939 britischer Staatsbürger. Internationale Bekanntheit erlangte er durch seine Porträts und Aktmalerei, die er ab dem Jahr 1952 in einem konsequent realistischen Stil gestaltete. In seinem Frühwerk orientierte sich der Künstler noch am Surrealismus und der Neoromantik sowie der Neuen Sachlichkeit, besonders an Otto Dix und George Grosz. Schnell fand er jedoch zu seinem eigenen entblößenden Bildcharakter, der sich durch einen realistischen Detailreichtum, bis hin zur hyperrealistischen Überzeichnung, kennzeichnete.

In seiner Aktmalerei stellte der Künstler nackte schwammige Körper dar, die er oftmals mit anstößigen Details ausstattete. Seine Porträts weisen zumindest melancholische, wenn nicht verlorene, abwesende oder schmerzliche Gesichtsausdrücke auf. Ein weiteres Merkmal der dargestellten Körper sind die zum Teil sichtbaren, sie durchziehenden Adern. Später konzentrierte sich Freud auf eine eher expressive Malweise mit einer stärker betonten Kontrastierung der Farbe. Im Jahr 1982 begann Freud außerdem mit der Technik der Radierung. Es entstand ein umfangreiches Werk, das in einer spannenden Wechselwirkung zu seinen Gemälde-Arbeiten steht. Dabei stehen Radierung und Gemälde des Künstlers gleichberechtigt in seinem Gesamtwerk nebeneinander.

Im Mai 2008 wurde Freuds lebensgroßes Gemälde „Benefits Supervisor Sleeping“, das 1995 entstand und das Aktmodell Sue Tilley zeigt, für eine Summe von 33,6 Millionen US-Dollar (umgerechnet 21,7 Millionen Euro) im Auktionshaus Christie’s versteigert. Dies stellte bis dato den höchsten Betrag dar, der jemals für ein Gemälde eines noch lebenden Künstlers gezahlt wurde. Dass Lucian Freud sicherlich keine materiellen Sorgen kannte, und bei aller Gnadenlosigkeit und Verlorenheit seiner Bilder durchaus ein Freund und Genießer des Lebens war, zeigt vielleicht auch der Aspekt, dass er insgesamt 13 Kinder in fünf Ehen zeugte.

Von 1959 bis zu dessen Tod 1992 verband Freud eine innige Freundschaft mit dem irischen Maler Francis Bacon (* 28. Oktober 1909 in Dublin; † 28. April 1992 in Madrid). Beide Maler porträtierten sich regelmäßig gegenseitig und gestalteten gemeinsam 1954 zusammen mit Ben Nicholson den Britischen Pavillon auf der XXVII. Biennale in Venedig. Francis Bacons Leben war kaum so wohl situiert wie das von Freud, und stand erheblich unter dem Einfluss von Alkohol und Glücksspiel. Berichtet wird von einer Vita zwischen Halb- und Unterwelt: von Verführungen des 15-jährigen Bacon durch Stallburschen in Dublin, von einem geheimen Spielclub in seiner Wohnung, von zwielichtigen Etablissements in Berlin und Paris bis hin zu Bacons Kriegserlebnissen, wo er nach Bombenangriffen Tote wegkarrte.

Der bekennende Homosexuelle Bacon, der vor allem mit seiner letzten Liebesbeziehungen zu dem jungen Gauner und Kriminellen George Dyer zum sich selber nicht schonenden Exzentriker wurde, gehört mit seinem expressiv-gegenständlichen Werk, zu den eindrücklichsten Künstlern der späten Moderne. Dem abgründigen Lebenswandel gegenüber steht dabei der großmütige Gentleman Bacon, der belesene Autodidakt und Intellektuelle, der eine ungewöhnliche Arbeits- und Selbstdisziplin aufzubringen schien, und der 1971 an der Spitze einer Rangliste der zehn bedeutendsten lebenden Künstler steht.

In Bacons Bildern spielt der Gewaltaspekt die zentrale Rolle. Immer wieder beschäftigt er sich mit den Themen Gewalt, Zerstörung und Verfall, in deren Zentren die menschliche Figur steht. Torsohafte, verkrüppelte Körper, bluttriefende Fleischmassen und verstümmelte Kadaver sind seine erklärten Ausdrucksträger exzessiver Gewalttätigkeit. Seine Entwürfe sind Spiegel der Schicksalhaftigkeit menschlicher Existenz, die für ihn ein Dasein zum Tode ist. Die Entstellungen, die Deformationen und die teils amputierten Glieder sind Ausdruck der alltäglich erfahrbaren Gewalt. Reduziert auf ihre bloße Kreatürlichkeit stehen Bacons Figuren für eine Existenz ohne Sinn und Erlösung, ohne Konstanz und Kontinuität.

Die Figuren selbst sind mit reicher Palette aufgetragen, mit groben Pinselstrichen verschmiert, die Farben mit Bürsten oder Lappen auf die Leinwand gestrichen. So verhalten sich die farbigen Inkarnate kontrapunktisch zu den entleerten, fast sterilen Hintergründen und geraten auf diese Weise in Isolation. Die Körper sind unscharf, verwackelt und teilweise bis zur Unkenntlichkeit deformiert. Mehrere Farbschichten überlagern einander, entstellen die Züge einer Figur, verwackeln ihre Konturen. Die Beziehung zwischen Figur und Hintergrund wird brüchig und flüchtig. Die Isolation der Körper und die puristischen Hintergründe verweisen dabei auf die Maler der Neuen Sachlichkeit (bspw. Hannah Höch, Christian Schad), deren Programmatik folgendermaßen beschrieben werden kann:

"1. Die Nüchternheit und Schärfe des Blicks, eine unsentimentale, von Emotionen weitgehend freie Sehweise; 2. die Blickrichtung auf das Alltägliche, Banale, auf unbedeutende und anspruchslose Sujets, die fehlende Scheu vor dem Häßlichen; 3. ein statisch fest gefügter Bildaufbau, der oft einen geradezu luftleeren, gläsernen Raum suggeriert; 4. (mit Einschränkung) die Austilgung der Spuren des Malprozesses, die Freihaltung des Bildes von aller Gestik der Handschrift und 5. eine neue geistige Auseinandersetzung mit der Dingwelt."

Bei derselben Auktion in New York, wo sich Freuds „Benefits Supervisor Sleeping“ so gut verkaufte, wechselte Bacons Werk "Triptych" von 1976, für 86,3 Millionen US-Dollar (55,7 Millionen Euro) den Besitzer. Bisher war noch nie so viel für ein Bild der Nachkriegszeit gezahlt worden. Aktuell liegt "Triptych" auf Rang sechs der teuersten Gemälde der Welt. Die Wirkungskraft Francis Bacons, aber auch seines Freundes Lucian Freuds, strahlt bis heute auf zeitgenössische Künstler aus. So hoben einige Maler der Neuen Leipziger Schule (bspw. Bernhard Heisig, Neo Rauch, Tilo Baumgärtel) in Interviews die Bedeutung Bacons und Freuds für ihre Arbeiten hervor.

Die Vertreter der Neuen Leipziger Schule, die ursprünglich aus der (vermeintlich erhabenen und propagandistisch funktionalisierten) Tradition des Sozialistischen Realismus heraus ihren ausgesprochen expressiven, mit vielen alltags-symbolischen Versatzstücken versehenen Realismus entwickelten, bilden wiederum eine Schnittstelle hin zu den postmodernen figurativen und gegenständlichen Ansätzen der Jungen Wilden und der Malerei eines Neuen Realismus, der sich mit Vertretern wie bspw. Dieter Asmus als entschiedene Gegenströmung zur abstrakten Kunst entwickeln wird. 

Weitere Entwicklungen des postmodernen Realismus stellen der Fotorealismus und der (zur Popart benachbarte) Hyperrealismus dar. Während der Fotorealismus durch eine brillante, realistische Darstellung vor allem schön sein will (und damit für das realistische Programm fast kontra-produktiv ist), stellt der Hyperrealismus (bspw. Ron Mueck, Gottfried Helnwein) in der Darstellung kühler und profaner, „überspitzt verstörender“ Wirklichkeit die Frage nach dem Wesen der Dinge wieder in einen fast schon ironischen, existentialistischen Kontext, wie wir ihn in weit weniger akribischer Form schon bei Beckmann, Picasso, Dix und Grosz Anfang der 20er-Jahre des letzten Jahrhunderts beobachten konnten. Kritisch betrachtet war „dieser weiterentwickelte und weiterverbreitete Hyperrealismus der Pop Art der 60er Jahre jedoch nur hyper-provozierend und hyper-oberflächlich und hyper-kommerziell“, wie der Kunst-Kritiker Ritvan Sentürk diagnostiziert.

Dass sich Akt und Erotische Kunst vor allem im Bereich des Figürlichen und des Realismus zu Hause fühlen (ohne Impressionismus, Expressionismus und Surrealismus als benachbarte Disziplinen auszublenden), liegt fast in der Natur der Sache, auch wenn der Eros sich bisweilen sogar in die Bereiche der abstrakten Kunst vorgewagt zu haben scheint. Dass gleichzeitig Fotorealismus oder Hyperrealismus als extreme Auswüchse einer realistischen Ausdrucksweise wiederum die Grenzlinie hin zu Pornografie und Pulp Fiction markieren, ergibt sich aus dem ursprünglichen Credo der Realisten, das schon Gustave Courbet als demokratische, das Selbst befreiende und nicht-idealistische Kunst bezeichnete. Fotorealistische Ausdrucksformen, ja der ganze Bereich der Fotokunst und hyperrealistischen Körperlandschaften sind in unseren Augen nur bedingt als schöpferische, verändernde Kunst zu betrachten, wenn wir nicht Wix-Vorlagen oder Provo-Spektakel zur Kunst erheben wollen. 

In diesem Sinne stellen die Kunstwerke der Galerei Liebreiz eine demokratische und volksnahe Kunstform dar, die mal verspielt, mal verschämt, mal frech und mal lustig die (nicht immer schönen und erhabenen) Realitäten spiegelt, welchen sich Maler, Muse und Publikum, je auf ihre Weise, auf ihrer ewigen Suche nach der Liebe und der Wahrheit hingeben wollen.

 

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Francis Bacon - Lying Figure (1969)

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