Ein rüstiges Modell im Bildhaueratelier

16.07.2019 19:27

Exklusiv! Schland, 2023. Eine Reportage aus der nahen Zukunft: Helmut Lorbeer, ehemaliger freier Jounalist und heutiger Grundrentenbezieher, frischt sein kümmerliches Alterssalär als... Aktmodell auf. Er lässt sich von Studierenden einer Kunsthochschule malen und modellieren. Das frühere Hobby ist für den Rentner zu einer kleinen Nebeneinkunft zur ansonsten eher sparsamen Daseinsvorsorge geworden. Und es ist eine minimale Kompensation für seine, auch im vorgeblichen Alter noch nicht gänzlich versiegte Körperlust - die Lust, seinen, wie er findet, mindestens zehn Jahre jünger gebliebenen (im Vergleich mit den nur eingebildet längst verfallenenen und ruinierten Körpern seiner Altersgenosse), durch lebenslange Pflege, FKK-Urlaube, Ausdauertrainings und Selbstbefriedigung gebildeten Leib weiterhin zu ehren. Als Leistungsbezieher in der jugendkultigen, glänzenden, glamourösen Scheinwelt des Spätkapitalismus fällt es ihm ohnehin immer schwerer, sonst sein erotisches Lebensgefühl aufrecht zu erhalten. Oder ist da jemand, der meint, es gezieme sich nun gar nicht, im Alter, als Senior und als Rentner sexuelle und begehrliche Gefühle zu hegen?

 

Gelebte Körper und gefühlte Ewigkeiten

Inmitten von acht Kunststudierenden hat Helmut Lorbeer im Bildhaueratelier der Hochschule seinen Platz eingenommen. Für die Akteure ein ganz normaler Studientag. Auch für den 72-Jährigen gehört es inzwischen zum Alltag, sich mindestens dreimal die Woche nackt auf das Modellpodest zu stellen. Seit mehr als 16 Jahren verharrt er auf Wunsch für Maler, Fotografen oder Bildhauer als Aktmodell nicht nur an der Hochschule, sondern auch in privaten Ateliers und Galerien, stundenlang in der gewünschten, stillen Pose. Gerade hat ein neuer Kurs begonnen, in dem er sechs Wochen lang täglich vier Stunden für die Studentinnen und Studenten stillhalten wird.

Den menschlichen Körper zu zeichnen oder zu modellieren, ist Teil eines jeden Kunststudiums. „Meine unsportliche Erscheinung, 170 Zentimeter groß, 82 Kilogramm schwer, dünne Arme und dicker Bauch würden sich eigentlich nicht für eine Model-Tätigkeit eignen“, schreibt Lorbeer in einer Selbstdarstellung, mit der er sich für weitere Modelljobs bewirbt. Denn das lebensechte, nicht durch Hochglanzästhetik oder Schönheitsideale korrumierte Gestalten und künstlerische Arbeiten ist für Studiernde und andere Lernende „total aufregend“, wie ihm eine Kursteilnehmerin bestätigt. "Das ist ähnlich wie bei den "Plus-Size-Models" - deren Attraktivität vor allem in ihrer Natürlichkeit, ihrer Unbekümmertheit und ...Normfreiheit begründet, findet Lorbeer.

„Gerade bei einem älteren Mann ist es total spannend, zu sehen, wie die Schwerkraft wirkt, was bei einem jungen drahtigen Mann oder auch einer jungen Frau noch nicht zu erkennen ist“, sagt einer der Masterstudenten der Bildenden Kunst. Bei dem "gelebten Körper" verschiebe sich der Nacken, und der Kopf komme nach vorne. Für ihn ist es ein wesentlicher Prozess, die Erfahrung zu machen, wie es über das Abzeichnen, der reinen Naturstudie heraus zu dem künstlerischen Schaffensprozess kommt, der schließlich in einem Akt-Kunstwerk mündet.

Eine im dritten Semester Bildhauerei Studierende beschreibt das lebensgroße Arbeiten lachend als: „echt gefühlsintensiv“. Sie sitzt an einem bereits deutlich zu erkennenden Lorbeer aus Ton. „Ich hatte das Gefühl, ich biege mit meinem Ton seinen Körper wie ein Masseur“, sagt sie belustigt. „Ich setzte mich beim Kunstschaffen ja immer auch mit mir selbst auseinander. Das ist noch einmal stärker, wenn ich dabei mit einem leiblichen Gegenüber arbeite.“

Es sei eine sehr körperliche Arbeit, mit den zähen und schweren Tonmassen zu arbeiten. Aber es habe auch etwas Entspannendes, einen vorhandenen Körper nachzubilden. „Man muss sich die Form nicht selbst erarbeiten, sondern kann formen, was schon da ist.“ Das Aktmodell Lorbeer kennt die Studentin bereits aus Mappenkursen, in denen es beim Aktzeichnen um das Kennenlernen von Proportionen, Kurven, Schatten und Eigenheiten des menschlichen Körpers geht. Sie findet es sehr mutig von dem älteren Mann, noch selbstbewusst vor so viel jüngeren Menschen Aktmodell zu stehen.

„Wenn ich das tun würde, dann wahrscheinlich nur als Jugendliche, wo ich mich vielleicht noch als zeigetauglich empfand, sagt sie ein wenig kokett.“ Nach kurzem Nachdenken fügt sie korrigierend hinzu: „Aber es ist ja auch viel spannender, den wirklichen Menschen zu zeigen, egal in welcher Lebensphase er sich befindet. Gerade ältere Menschen bekommen wir in der Kunst doch kaum zu sehen. Überall gibt es nur junge und schöne Menschen zu sehen.“

Auch ihre Kommilitonin erlebt den Körper als etwas Natürliches und nicht als etwas, das schamhaft verborgen werden müsste. Für sie hat das Gestalten nach einem Modell jedoch gar nichts Erotisches. Sie will anderen einfach eine Freude machen. Wahrscheinlich würde ihre Mutter beim Anblick der nacken Mannesgestalt darauf nochmal einen anderen Blick bekommen, falls das Lorbeer-Werk ihrer Tochter dereinst in Beton gegossen ihren Vorgarten schmücken sollte.

 

Wo bei aller Kunst ist Helmut?

Nicht jedes Mal wird sich Helmut Lorbeer in den entstandenen Darstellungen wiedererkennen, als er später mit mir die fertigen Aktdarstellungen inspizieren geht. Er meint dazu, er sei es gewohnt, sich an vielen Orten immer wieder selbst zu begegnen. In unzähligen Ausstellungen geriet er zum Kunstobjekt. Nicht immer hat er sich dabei in den Darstellungen wiedererkannt.

„Weißt du, warum die hier nur alte, kahle Männer ausstellen?“, erinnert er sich an die Frage einer Ausstellungsbesucherin, der nicht klar war, dass es sich bei den Aktporträts immer um ein und dieselbe Person, nämlich ihn, handelte. So brachte auch die Arbeit eines chinesischen Studenten, der ihn malte mit Augen mit besonders schmaler Lidspalte und schwarzen Stoppelhaaren, die damalige Dozentin zu der inzwischen zum geflügelten Wort gewordenen Frage: „Wo, bei aller Kunst, ist Helmut?“. Daraus entstand später an der Hochschule eine gleichnamige, mehrsemestrige Ringvorlesung, welche sich mit der unterschiedlichen Wahrnehmung und Antizipation von Realität beschäftigte.

Auch für den ehemaligen Journalisten Lorbeer ist das ein wichtiges Aspekt. Inzwischen ist sein Modellstehen zur zweiten Einkommensquelle geworden. Auch wenn es manchmal anstrengend sei, bereite es ihm immer noch viel Freude. Auf meine Nachfrage, wie er es schaffe, selbst bei ungemütliche Posen „locker“ dazustehen, antwortet er schelmisch: "Während die Studenten sich auf mich konzentrieren, muss ich mich ablenken." Auch bei einfachen Posen können Füße oder Arme einschlafen und das gilt es auszuhalten. Nur in Notsituationen, wenn er vor einem Krampf stehe, könne er um Entschuldigung bitten, um die Pose kurz zu unterbrechen.

Was er gegen derlei Malaissen tue? „Abgesehen von Yoga, Körperpflege und vitaminreicher Ernährung - Denken und auswendig lernen.“ So sei es ihm beispielsweise schon einmal gelungen, eine 30 Minuten dauernde Pose in Gedanken herunterzuzählen. „Ich habe es bis auf zwei Sekunden genau geschafft“, erinnert sich Lorbeer und lacht. "Anspruchsvoller ist es aber, die stille Pose zu nutzen, um ein Gedicht oder gar Theaterstück auswendig zu lernen. Wenn mir mal eine Schauspielrolle angeboten werden sollte - vielleicht als Darsteller von Dorian Gray."

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