Penis und Pinsel - "Kunst-Geburten" bei Ulrich Pfisterer
22.07.2016 13:10
Bilder entstehen in einem Liebesakt
Häufig lieben Maler neben der Kunst auch das Modell, das sie zur Kunst inspiriert. Für Raffael war die Liebe zu seiner Angebeteten, während er die Villa Farnesina ausmalte, eine unverzichtbare Quelle der Inspiration. Seine Bilder wurden wie in einem wahren Schöpfungsakt oder leidenschaftlicher Liebesakt, als Widerstreit der Urgewalten von (göttlicher) Natur und (menschlicher) Kultur gezeugt.
Der Anblick eines gelungenen Bildes wiederum vermag beim Betrachter Wünsche zu wecken, manchmal auch ein Verlangen, sodass aus Beschauern Kunstliebhaber und Sammler werden. In diesem Kreislauf von Begehren, Zeugung, Geburt und Fürsorge spielt die Erotik eine entscheidende Rolle.
Der an der Ludwig-Maximilian-Universität in München lehrende Kunsthistoriker Ulrich Pfisterer, ein Kenner der Renaissancekunst, interessiert sich in seinem Buch "Kunst-Geburten" für die erotische Aufladung von Bildern der Frühen Neuzeit. Mit kenntnisreicher Lust lüftet Pfisterer den Schleier und zeigt, was in der Kunst passiert, wenn Amors Pfeile ihr Ziel gefunden haben. Dabei wird der Begriff von der "Kunst-Geburt" in seiner metaphorischen Bedeutung wörtlich genommen, wenn Pfisterer auf der Grundlage von zahlreichen Beispielen und unter Verwendung von vielen Abbildungen zeigt, dass Bilder in einem Liebesakt gemacht und in einem Schöpfungsakt gezeugt worden sind.
Kunst-Geburten führten zur Geburt der Kunst
Anzügliche Wortspiele hatten in der Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts Konjunktur. Sie bilden zugleich den Hintergrund für das Bildverständnis eines Artemisia Gentileschi zugeschriebenen Bildes, das den Titel "Die schlafende Malerei im Atelier" (vermutlich aus den 1630er-Jahren) trägt. Die auf dem Boden liegende Malerei, deren Scham von einem Tuch nur flüchtig bedeckt ist, wartet darauf, erweckt zu werden. Die Geste ist einladend, denn sie spielt darauf an, dass ein Bild in einem Liebesakt gezeugt werden soll. Palette und Staffelei stehen noch unbenutzt in unmittelbarer Nähe.
Wäre das Gemälde stattdessen von einer Malerin gemalt worden, "würden weibliche Personifikation der Malerei und Künstlerin sozusagen in eins fallen, die erotische Attraktion der einen Gestalt auch für die andere gelten, das Werben für die Kunst zugleich ein Werben für sich selbst sein."
Für seine These, dass Kunst-Geburten schließlich zur Geburt der Kunst führten, wobei die Hervorbringung (Zeugung) einen wesentlichen Anteil an der Ausprägung und Ausgestaltung der "Schönen Künste" hat, weiss Pfisterer überzeugend zu entwickeln. Die vielen Bildverweise und eingängige Sprache des Autors lassen die Lektüre des Buches zu einem "einsichtigen", die Gratwanderung zum "Verbotenen" elegant meisternden Vergnügen werden.
Ulrich Pfisterer: "Kunst-Geburten. Kreativität, Erotik, Körper", Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2014, 192 Seiten, 24,90 Euro