Kein Entrinnen im Reich von Sinnen - zum Tode Nagisa Oshimas
16.02.2013 17:07
Anfang der sechziger Jahre machte sich der Regisseur und Drehbuchautor selbständig, nachdem sein Film "Nihon no yoru to kiri" ("Nacht und Nebel") von der staatlichen Produktionsgesellschaft nach nur vier Tagen aus dem Kino entfernt wurde - wegen politisch extremer Positionen. Der pazifistisch orientierte Oshima hatte über die Studentenbewegung der Nachkriegsjahre berichtet. Finanziellen Ruhm brachten ihm die Filme nicht ein, weswegen sich Oshima mit Auftragsarbeiten fürs Fernsehen über Wasser hielt. Erst sein tabuloser Erotikfilm "Im Reich der Sinne" machte Oshima dann international berühmt und berüchtigt. Mit einer eigenen Produktionsfirma konnte Oshima es sich dann erlauben, politisch kontroverse Filme zu drehen und mit den Filmformen zu experimentieren.
Im Reich der Verhängnisse
Die bis dato fesselndste Darstellung des männlichen Sex-Fetischismus ist die wohl die Szene im Reich der Sinne, in welcher Sada mit Hilfe ihres langen, scharf geschliffenen Messers ihren nymphomanischen, unersättlichen sexuellen Heißhunger stillt. In einem Duell auf Leben und Tod geraten diese kalte, funkelnde Waffe und das immer steife rotglühende männliche Glied aneinander. Das Wort 'Erektion' bekommt dabei eine doppelte Bedeutung, weil der Penis am Ende dieser Umwandlung von Fleisch in Stein wirklich und wörtlich als Standbild aufgerichtet wird.
Gleichzeitig gewährt Oshimas Stil dem Zuschauer keine Atempause. Die Farben sind lebhaft und scharf: das Scharlach-Rot des Kimonos deutet auf Blut hin, die in Gelb und Blau schimmernden Stoffe, das Orange des Sonnenuntergangs und das Blaßgrün des Lampenschirms. Ständig wird die Aufmerksamkeit der Zuschauer in Anspruch genommen und ist gefangen durch die Härte und Rauheit der streng komponierten Bildeinstellungen. An sich ohne stürmische Aktivität, ohne Glanzlichter, verwirrt im "Reich der Sinne" durch seine starre Stilistik, seine innere Geschlossenheit. Der ganze Film ist hart und starr wie Kichizos fortgesetzte Erektion. Das wird in der Medizin als "Satyriasis" bezeichnet, deren stechende Schmerzen nur durch die blitzartige Erlösung der Kastration beendet werden können.
Das Thema Sexualität ließ Oshima nicht mehr los. 1978 folgte "Ai no bore (Im Reich der Leidenschaften)", in dem eine junge Frau gemeinsam mit ihrem Liebhaber ihren Jahrzehnte älteren Mann umbringt.Die Handlung spielt in einem japanischen Dorf am Ende des 19. Jahrhunderts. Die attraktive Seki ist mit dem viel älteren Rikschafahrer Gisaburo verheiratet. Eines Tages lernt sie den ehemaligen Soldaten Toyoji kennen, mit dem sie eine Affäre eingeht. Seki und Toyoji beschließen gemeinsam, Gisaburo zu töten; seine Leiche wird in einem Brunnen versteckt. Seki behauptet, ihr Mann sei nach Tokio gezogen, um Arbeit zu suchen. Seki und Toyoji werden drei Jahre später von dem Geist des Mannes verfolgt. Die Ortsbewohner schöpfen Verdacht, worauf die Behörden das Verschwinden von Gisaburo untersuchen.
Samurai, Schicksal, Harakiri
Vincent Canby schrieb in der New York Times 1980, der Film sei einfühlsamer und romantischer als "Im Reich der Sinne". Nicht nur Sex würde zur Besessenheit, sondern auch die Liebe. Die Protagonisten würden nicht zu Opfern der Gesellschaft, sondern zu Opfern der eigenen Gefühle. Der Film sei „außerordentlich schön“ und „exquisit gespielt“; die Bilder seien beeindruckend. Alles ist „präzise geordnet“. Die Zeitschrift Cinema schrieb, das „erotische Psychodrama“ sei ein „düsterer Klassiker, sinnlich bis übersinnlich“. Aufsehen erregte der Regisseur auch mit "Max, Mon Amour" (1985), einer ungewöhnlichen Liebesgeschichte zwischen einer Diplomatengattin und einem Schimpansen. In der Hauptrolle: Charlotte Rampling.
Mit dem britischen Popstar David Bowie arbeitete Oshima ebenfalls zusammen. 1982 brachte er "Furyo - Merry Christmas, Mr. Lawrance" heraus, die Geschichte eines britischen Offiziers in einem japanischen Kriegsgefangenenlager auf Borneo. Bildgewaltig und, obwohl ein Historien-Abenteuer, mit großem Pop-Soundtrack. Von Anbeginn seines Schaffens an orientierte Oshima sich an politischen Kontroversen und sind seine Filme auch noch so intim und bezogen auf die Zweier-Beziehung, so sehr werden auch die ökonomischen Verstrickungen und Bezüge der Protagonisten thematisiert. Auch die Abgeschiedenheit des exzessiven Liebespaares kann nicht darüber hinweg täuschen, wie sehr die Protagonisten letztlich doch den existenziellen und materiellen Zwängen der Welt unterworfen bleiben. Nach 14 Jahren Pause kam im Jahr 2000 mit "Gohatto (Tabu)" der letzte Film Oshimas in die Kinos. In dem Samurai-Drama verarbeitete er einmal mehr die Beziehung zwischen Gewalt und Erotik, sein großes Lebensthema. Ein weiterer Film, an dem Nagisa Oshima gearbeitet haben soll, bleibt leider unvollendet.
Die Filme Nagasi Oshimas bilden zusammen mit Filmen gleich gesinnter Regisseure wie Kiyonori Suzuki oder Kaneto Shindo ein eigenes Genre. Suzukis Film "Quibaba - die Töterinnen" von 1965 ist ein rauhes, wildes Bildergedicht, in dem zwei nymphomanische, menschenfressende Möderinnen im Mittelalter versprengte Krieger in ihre Schlingen und Fallen locken, um sie zu vergewaltigen und dann ihre Leichen zu verschlingen. Die ältere der beiden führt dabei, indem sie sich an einem Baum reibt, eine Selbstbefriedigungs-Pantomime vor und lässt so erkennen, wie sehr die barbarischen Schmerz-Riten in ihrer Langeweile und Frustration begründet sind.
Eroduktion und Pulp-Fiction
Während in den 60er-Jahren in aller Welt nur sehr kleine vorsichtige Schritte in Richtung auf mehr Freizügigkeit in den Filmen gemacht wurden, erlebte Japan die Blütezeit eines neuen Filmgenres, in dem Gewalt und sado-masochistische Szenen in erstaunlicher Weise vorherrschen. Oftmals angesiedelt im Milieu der Elends- und Untergrundviertel Tokios, in Stundenhotels oder Ruinen tauchen Gestrauchelte auf, Spieler, Prostituierte, Zuhälter oder Yakuza. Im Grunde waren es alles Krimis, die willkürlich mit Szenen voll Sadismus und übertriebener Erotik angereichert worden waren. Dank der Methode, die erotischen Szenen mit solchen von Gewalt zu verbrämen, entgingen diese Filme unbeanstandet der damals noch recht aktiven japanischen Zensur.
Keiner von Suzukis Filmen, auch nicht die von Tamamura oder Takechi, waren z.b. im relativ prüden Frankreich erlaubt. Einige durften in Belgien aufgeführt werden, das in dieser Hinsicht liberaler war. Jedenfalls hatten diese Filme enormen Geschäftserfolg und fanden eine breite Publicity. Diese Art Erotik-Produktion, die in Frankreich den Namen "Eroduktion" bekam, brachte den japanischen Regisseuren enorme Gewinne ein. Diese Filme waren auch für das Außerjapanische Publikum eine faszinierende Reise in den volkstümlichen Hintergrund Japans, hier insbesondere in der Spielart einer gewissermaßen "ritualisierten Erotik", in der Gewalt und Blut gleichsam geheiligt sind (schließlich sind wir im Land des Harakiri).
In derselben Zeit, in der sich in Japan die 'Eroduktion" ausbreitete, entstand in den Vereinigten Staaten von Amerika ein entsprechendes Filmgenre aus Gangsterfilm Noir und Erotiktrash, welches nur am Rande mit der ebenfalls aufstrebenden Porno-Industrie zu tun hatte, und welches später dann als 'Pulp Fiction' bezeichnet wurde, Mit zahlreichen Regisseuren von Russ Meyer bis Quentin Tarrantino werden mit dieser Mischung aus Krimi, Trash, Kinky-Erotik und Horror bis heute große Geldmengen auch abseits des Hollywood-Kinos erwirtschaftet. Aber davon erzähle ich Euch ein anderes Mal.