Kunst als sexuelle Befreiung - Update

09.10.2012 13:18

Jeff Koons - Bourgois bust (1991)

Die produktivsten Künstler haben wahrscheinlich den unbändigsten Sexualtrieb besessen, den es zu sublimieren, umzuformen galt zu einem Werk an der Aufklärung und am Fortschritt der Kultur. Die abstrakt-dekonstruktivistischen oder agitatorisch-politischen Positionen innerhalb der intellektuell und emotional hoch aufgeladenen Kunstströmungen waren nicht unbedingt Weg weisend. Um individuelle Erwartungen zu konterkarieren, ideologische Grenzen zu erweitern, gesellschaftliche Tabus zu brechen oder sich selbst zu befreien, waren vor allem Sexualität und Subjektivität die primären Impulse, aus denen sich künstlerischer und intellektueller Fortschritt im ausgehenden 20. Jahrhundert speisten. Selbst für Pop-Art-Künstler der ersten Stunde wie Tom Wesselmann, Richard Lindner oder Allen Jones wurde "der Eros im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" zuerst durch den Fokus auf seine Geschlechtsmerkmale und dann durch die Situierung als anonym/austauschbarer, desperater, pervertierter oder fetischisierter Charakter definiert.

 

Neubewertung des Gechlechterverhältnisses

Die sexuelle Revolution und die Neubewertung des Geschlechterverhältnisses haben in der Kunst und der subversiven Agitation der Postmoderne geradezu ihr sublimes Agens und Äquivalent gefunden, gerade weil der wissenschaftliche Diskurs, der nach S. Freud, J. Lacan, W. Reich, M.Foucault und der SexPol-Bewegung geführt wurde, schlichtweg un-sexy war. Die sich parallel zu den Studentenprotesten in USA und Westeuropa und ihrer sexuellen Emanzipation entwickelnde Porno-Industrie wiederum sorgte mit sich rasch vermehrenden Skandalen und Tabubrüchen für eine Eskalation und Ausweitung der Kampfzone um Identität, Unversehrheit und Wiederverwertbarkeit des bloßen, ungeschützten Körpers, mithin des rein privaten, begehrenden Menschen. Eine Kunst jedenfalls, die sich der Erotik und dem Intimbereich anheim gab, galt schon per se als aufklärerisch, fortschrittlich oder konfrontativ.

Künstler konnten sich diese Skandal heischende Erwartungshaltung ihres Publikums zu Nutze machen, um viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, ohne auf drastische stilistische Umwälzungen zurück greifen zu müssen. Zum Beispiel thematisieren die Arbeiten von Jeff Koons aus den späten 80er-Jahren die Erotik der Hochglanzästhetik eines Playboy mit seinen heraus klappbaren Mittelseiten und ihren pompös-unnahbaren Playmates. Koons Fotoarbeiten oder Plastiken mit der italienischen Pornodarstellerin La Cicciolina porträtieren diese Dreifaltigkeit aus Dekadenz, Kitsch und Verschwendungssucht, die zum Wesens- sprich Geschlechts-Merkmal unserer heutigen, kapitalistischen, so genannten abendländischen Kultur gereift ist.

Für die Herstellung erotischer Bilder spielt die Fotografie eine immer bedeutendere Rolle, da sie Authentizität zu garantieren scheint, die in gemalten oder gezeichneten Werken so nicht vorliegt. Der fotografische Hyperrealismus und die Ent-subjektivierung der ehemals erotischen Porträtkunst durch die sogenannten 'Körperlandschaften', sind nur die Vorhut einer Entwicklung hin zum Menschen als Patchwork oder Multiple. Zum vielgestaltigen Mischwesen und zur kreatürlichen Chimäre, bestehend aus mehreren Geschlechtern wie beim Transgendering, Tatoos und Piercings, als Prothesenwesen mit Apps, denkbar sind externe Laufwerken und Ersatz-Geschlechtsteile, Sex mit Robotern oder virtuellen Avataren - kein Problem. Der kalkulierte Tabubruch erscheint auf dem Kunstmarkt als elitäres Hobby zur Bekämpfung dekadenter Langeweile. Die Zukunft ist die Welt der unendlichen Möglichkeiten. Die Schöpfung, das eigentliche Metier von Künstlern und Künstlerinnen, ist die sich hingebende Gegenwart. Alles kann, nichts muss!

 

Künstlerischer Gebrauch der sexuellen Bildsymbolik

Realismus und Hyperrealismus, Junge Wilde, Wiener Aktionisten, Body Art und Action Painting, Surrealismus und Fantasy. Die figurative Malerei hat trotz neuer Dominanz und exponentieller Zuwachsraten der fotografischen Ausrucksformen ihre anspruchsvolle Stellung innerhalb der Kunst behaupten können. Ein steter künstlerischer Gebrauch der sexuellen Bildsymbolik zieht sich durch die Kunstströmingen der späten Moderne und der Postmoderne, bei dem es nur folgerichtig ist, das neben der expandierenden Porno-Industrie auch das Thema der Geschlechtlichkeit und Geschlechtsidentität immer schärfer in den Fokus der künstlerischen Aktionen und Reflektionen gerät. Exemplarisch für das sich heraus bildende feministische Bewußtsein seit den 60er-Jahren, ist unter anderem Sylvia Sleighs realistisch-parodistische Arbeit 'Das türkische Bad' von 1973, nach dem berühmten Gemälde von Jean-Auguste-Dominique Ingres. Bei Sleigh ist die Ansammlung ansehnlicher, nackter, in Vertrautheit aneinander gekuschelter Frauenkörper ersetzt worden durch eine sich dem entsprechend ungeniert zur Schau stellende Gruppe nackter Jünglinge oder Maskulinos, welche allerdings mit einer gewissen Stilisierung und Distanz zueinander arrangiert sind.

Während Sleighs 'Türkisches Bad' die feministische Kritik an der traditionellen, sexistischen Darstellung der Frau in der Kunst nur sehr leise formuliert - durch das etwas grotesk wirkende Arrangement nackter, möglichst ungezwungen Männer sowie durch eine Betonung derer Körper- und Haupthaar-Bewüchse -, ist die Anspielung auf die sich ebenfalls gerade entfaltenden Homoerotik unter Männern innerhalb der Kunstszene offensichtlich. Die feministische Kritik an den herkömmlichen, stereotypen Abbildungen von Frauen in der Kunst wurde dann in den intim/narzisstischen Fotoarbeiten von Cindy Sherman oder den obszön/voyeuristischen Bildern Valie Exports umso deutlicher thematisiert. Sleighs und Shermans Arbeiten gelten als Marksteine auf dem Weg der feministischen Kunst der 70er und 80er-Jahre, deren Hauptziel, wie Edward Lucie-Smith schreibt, das Infragestellen männlicher Sexualphantasien war, indem sie deren Nichtigkeit und Lächerlichkeit unterstreichen.

In ihrer glorifizierenden Art und Weise neigt die feministische Kunst dazu, den unterschiedlichen Zugang zur Erotik zu betonen, der weniger von deren Ausdrucksstärke als vielmehr von dem Geschlecht des Betrachters abhängen würde. Viele Künstlerinnen eröffneten einen sehr intimen Zugang zu ihren höchst subjektiven Werken, bspw. Louise Bourgoise, Niki de St. Phalle, Sophie Calle oder Dorothy Ianonne, bis später hin zu der Performance-Kunst einer Marina Abramovic, die sich selbst und ihren verletzbaren Körper zum authentischen Inhalt ihrer Kunst erklären. Judy Chicago, eine der Hauptvertreterinnen feministischer Kunst in den USA, setzt dagegen mehr auf den Einsatz des Sexus für politische, nicht für konventionell erotische Zwecke. Bei ihrer Installation 'Dinner Party' von 1974, die einen dreieckigen Tisch mit 39 Gedecken zeigt, huldigt sie damit ganz besonderen Frauen, die für die Entwicklung der westlichen Kultur von heraus ragender Bedeutung waren, Frauen aus der Antike (die Philosophin Hypatia) ebenso wie feministische Idole, z.B. die Künstlerin Georgia O'Keeffe mit ihren ornamental-erotischen Gemälden. Die Gedecke jener Dinner Party sind mit auf die jeweilige Persönlichkeit abgestimmten Designs bemalt, die als Motiv u.a. die Vulvaform oder einen emblematisierten Frauenkörper zeigen

 

Die Auseinandersetzung um das männliche Geschlecht

Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Geschlecht blieb nicht auf den Feminismus beschränkt. John Kirby, einer der interessanteste Künstler, die während der 80er-Jahre in Großbritannien auftauchen, beschäftigte sich ebenfalls mit den unterschiedlichen Rollen von Mann und Frau. Er portätiert sich oft in Frauenkleidern, aber nicht als Transvestit. Wegen des stark autobiografischen Charakters seiner Bilder ist sein 'Selbstporträt' von 1987, auf dem er im Kleid mit lasziv herunter gerutschtem Träger, mit Tatoo auf dem Oberarm und mit Rose in der Hand erscheint, fast zu einer zeitgenössischen Ikone geworden. Ähnlich sind die Arbeiten Jean Rustins zu Prototypen der Postmoderne geworden, wenn sie den Betrachter in realistischer Manier mit Menschen konfrontieren, die nach klassischen Gesichtspunkten als hässlich, deformierrt und unförmig angesehen werden müssten. Seine Models sind nackt oder nur teilweise bekleidet und besetzen Räume, die öd, leer und triste sind, genauso wie die Gesichter dieser Protagonisten. Seine Figuren sind oft als "geisteskrank" oder als "Opfer aus Konzentrationslagern" bezeichnet worden, aber eigentlich verleiht die Darstellung Rustins ihnen Würde und Selbstbeherrschung, und spottet allen ätzenden Beschreibungen. So werden Rustins Nackte zu Allegorien der Entfremdung, der Hoffnungslosigkeit und dem Zusammenbruch der herkömmlichen Ideologien.

Im Gegensatz zum weiblichen Akt nimmt der männliche, der häufig als Vehikel für homoerotische Empfindungen dient, in der postmodernen Kunst eine umstrittene Stellung ein. Die Ausbildung einer eigenen homosexuellen Kunst verlief parallel zum Aufstieg der feministischen Kunst und wurde, wie die feministischen Bildwerke, Ausdrucksmittel einer eigenständigen Kultur. Eine sehr einflussreiche Bilderwelt schuf der Fotograf George Dureau schon in den frühen 70ern mit seinen Porträts von konkret deformierten und verstümmelten Personen, von Kleinwüchsigen und Kriegsopfern, immer nackte Männer und dabei meist Schwarze. Auch wenn die Verstümmelten und Verwachsenen den Betrachter schockieren oder gleichgültig lassen sollten, schnell verwandelt sich der provokante Bildinhalt durch Dureaus Komposition in eine erhabene, erotische, schöne und harmonische Schöpfung, die sich nach Erlösung sehnt. Natürlich haben Dureaus Musen ihre Würde, ihre Wünsche und Begehren, sie haben dasselbe Anrecht auf Sexualität und Liebe wie die, die unversehrt geblieben sind. Charakteristisch für Dureaus Fotografien ist ihre heile Welt, die unbeschwerte Atmosphäre einer Stadt, wo das, was anderswo bizarr wäre, völlig alltäglich wirkt.

Inspiriert von Dureau präsentiert sich uns auch Robert Mapplethorpe, der erstmals im Untergrund von New York und San Francisco Aufsehen erregte, als er eine Reihe von Fotografien ausstellte, die das damals populäre homosexuelle Sado-Maso-Milieu dokumentierten. Mit seinen Aufnahmen der 'Black Males' von 1980, den Porträts nackter schwarzer Männer, welche ähnlich ästhetisch inszeniert sind, wie bei Helmut Newton die mondänen, unberührbaren Frauen, sorgten sogleich für Diskussionen und Skandale. Mapplethorpe benutzt bewusst die Fotografie als Mittel um einem neuen Verständnis von Sexualität zum Durchbruch zu verhelfen. Durch gesichtslose, geometrische Posen, Ausschnitte und Detailaufnahmen vom Geschlechtsverkehr oder Hervorhebung von Körper- und Geschlechtsmerkmalen entpersonifiziert er seine Modelle und Musen und stellt (vor allem bei den 'Black Males') die nackten Körper in Beziehung zu ihrer Rasse und ihrer Gruppenzugehörigkeit. Die fotografische Authenzität seiner Bilder verstärkt dabei noch ihren provokativen Charakter und das Publikum reagiert geschockt auf diese Enthüllungen, die von einem neuen sexuellen Selbstbewusstsein künden, das die bislang Unterdrückten und Entrechteten nun formulieren.

Die mit sich im Reinen befindliche Identität

Eine ungebrochene, mit sich im Einklang und Reinen befindliche Identität, war ursprünglich das Hauptthema der männlich-homosexuellen Kunst. So z.B. in den Bildern von Tom of Finland, mit seinen muskulösen und mit dicken Schwänzen und knackigen Ärschen, die sich unter einer engen Jeans-Hosen abzeichnen, ausgestatteten Bauarbeitern. Oder denken wir an die nackten Rodeo-Cowboys mit ihren erigierten Penissen, wie sie wutschnaubende Stiere reiten, die Delmas Howe geschaffen hat. Auch hier ist sein Bestreben deutlich, den Werken entsprechend der feministischen Ansätze, einen eigenen Mythos, hier Macht und Aggression, einzuhauchen, der stark genug ist, die Aktivitäten und Vorlieben der eigenen Gruppe zu rechtfertigen und damit die allgemeine Akzeptanz gegenüber der Männerliebe zu stärken. Dann jedoch brach AIDS über die Welt herein und alle Befreiungs- und Akzeptanzbestrebungen sowie Heile-Welt-Szenarien innerhalb der homosexuellen, erotischen Kunst standen plötzlich in Frage.

Mapplethorpe, der 1989, frühzeitig auf dem Höhepunkt seines Schaffens an AIDS verstarb, baut auf dem Eindruck auf, dass der nackte Mann mit einem weit stärkeren Tabu belegt sei, als die nackte Frau. Ungeachtet der Tatsache, dass nicht erst nach Jean Cocteau und Pablo Picasso die Darstellung des exponierten männlichen Gliedes, ob erigiert oder im Ruhezustand, wieder die Akzeptanz erlangen könnte, die sie in der Antike noch selbstverständlich hatte, scheint es bis heute einen hohen Rechtfertigungsdruck zu geben, bevor Künstler den nackten Mann wieder ganz unvoreingenommen und natürlich in ihre Bildwelten integrieren. Die sexuelle Befreiung des Mannes jenseits homosexueller Klischees steht jedenfalls noch aus.

Was die Kunst der Moderne und Postmoderne zur sexuellen Befreiung wirklich beigetragen hat, betrachte ich als zwiespältig. Sicherlich hat die Kunst eines Andy Warhol, Jeff Koons, Robert Mapplethorpe oder Helmut Newton dazu beigetragen, gemäß des Credos einer bedingungslosen Subjektivität, sie selbst zuerst vor allem anderen zu befreien, und besonders das Produkt Kunst von allen materiellen und finanziellen Beschränkungen zu entlasten. Außerdem ist von dem breiten Outing der Homosexuellen-Bewegung, besonders im Rahmen von Kunst und Pop, einhergehend mit ihrer rasch ansteigenden Akzeptanz und Popularität in der Bevölkerung, ein immenser kreativer Schub ausgegangen, der weit über die erotische Kunst hinaus, die gesamte Kultur als Summe menschlicher Ausdrucksformen zu erweitern helfen konnte. Das Credo "Sex sells!" als Kind des in den späten 60er-Jahren begonnenen sexuellen Aufbruchs und seiner fatalen, weil desillusionierenden, abtötenden Liaison mit Pornografie und dem Konsumterror des Boulevards, sollte in der Folge leider zu einer eher sexual-skeptischen, vagabundierenden und zersplitterten Subjektivität führen, wie sie unter anderem in den verloren/düsteren und fantastischen Visionen von H.R. Giger oder der Punk- und Bondage-Fotografin Doris Kloster aufscheinen.

Eine sexuelle Befreiung die unser aller Leben durchtränkt, als kulturelles Gesundheits- und Hoffnungs-Programm zur weiterhin wichtigen Aufklärung, Emanzipation und individuellen Befriedigung sollte auch weiterhin im Interesse von Kunstschaffenden und Betrachtenden liegen, weil noch nie war der Mensch so unbefriedigt und ungeliebt wie heute. Durch ein freizügiges, lustbetontes, liebevolles und sinnlich ausgefülltes Leben sollte das Allzumenschliche des Menschen ruhig weiterhin seinen Freuden und Gelüsten nachgehen und so zum Gedeihen der Gesellschaft beitragen. Die sexuelle Befreiung jenseits kapitalistischer Ausbeutungs-, Verwertungs- und Wachstums-Logik haben die Menschen auf ihrem Weg der Selbstentfaltung noch längst nicht zufrieden stellend erreicht.

 

Quelle: Edward Lucie-Smith - "Erotik in der Kunst" (München 1997)

 

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