Die Löwin und der König - Dorothy Iannone und Dieter Roth

21.06.2011 12:17

Dorothy Iannone - Let me squeeze...

Die Muse eines Künstlers ist weniger sein Modell oder seine künstlerische Vorlage, als vielmehr seine seelische Quelle, seine Inspiration, seine Leidenschaft und Liebe. Wenn zwei Künstler und Künstlerinnen sich gegenseitig Muse, also Leidenschaft und Inspiration sind, ergeben sich daraus oft besonders extraordinäre, exzentrische oder exemplarische Biografien, die sich dann in die Annalen der Kunstgeschichte einschreiben. Denken wir an den Bildhauer Auguste Rodin und seine tragische Beziehung zu der jungen begabten Camille Claudel, die letztlich verarmt in der Nervenheilanstalt starb, oder die geschichtsträchtige, dramatische Beziehung zwischen der Surrealistin Frida Kahlo und dem politischen Künstler Diego Rivera. Die dagegen harmonische und äußerst fruchtbare künstlerische Liebesbeziehung, die der Maschinenkünstler Jean Tinguely und die Plastikerin Nicky de Saint Phalle führten, drückte sich in zahlreichen Ausstellungen und Werken aus, die sie zusammen kreierten. Einen besonders intimen, intensiven und lustvollen künstlerischen Ausdruck und Austausch fanden das Künstlerpaar Dorothy Iannone und Dieter Roth, deren originelle, schöpferische Beziehung das erste Mal durch eine umfangreiche Ausstellung 2005 im Sprengel-Museum in Hannover gewürdigt wurde.

 

Als der 37-jährige Dieter Roth und die drei Jahre jüngere Dorothy Iannone sich 1967 kennen und auf den ersten Blick lieben lernten, genoss der in Hannover geborene und in Reykjavik lebende Sohn einer deutsch-schweizerischen Familie als Produzent von skurrilen, einzigartigen Kunstbüchern oder "Literaturwürsten“ schon eine gewisse Popularität, während die kleine, zierliche und schwarzhaarige Amerikanerin, die aus Holz bunte Figuren bastelte und sie mit exponierten Geschlechtsteilen versah, künstlerisch noch ein unbemaltes Blatt war. Die Kunst war sein Leben, dann wurde er zum Gegenstand ihrer Kunst.

Dorothy Iannone, geboren 1933 in Boston/Massachusetts, begann 1959 zunächst ungegenständliche Bilder zu malen, die sich am abstrakten Expressionismus orientierten. Bald wandte sie sich aber gegenständlichen, erotischen Themen zu. 1961 klagte sie erfolgreich gegen das Verbot der in den USA als Pornografie indizierten Werke von Henry Miller und sie betrieb von 1963 bis 1967 gemeinsam mit ihrem damaligen Mann die Stryke Gallery in New York. Bis heute sind ihre Hauptthemen die sexuelle Befreiung, der heilige Eros und die Natürlichkeit des Sexus, das Ganze gespiekt mit intimen, subjektiven und autobiografischen Bezügen. In vielen bunten, teilweise psychedelisch-ornamental anmutenden Bildern und Multimedia-Objekten, Künstlerbüchern und Videoinstallationen hat sie ihre Wünsche, Träume und Imaginationen verwirklicht.

Während die animierende, kreative, sprühende Muse eines Künstlers das Leben und seine Zukunft verkörpert, Humor, Leidenschaft und Sinnlichkeit symbolisiert, kann die Muse auch zum Symptom des Scheiterns und der Vergeblichkeit mutieren. Dann steht die Muse für Tristesse, Depression, Drama und Schmerz. Sie ist eine Femme Fatale, die für den Künstler, der sie liebt, Verhängnis bedeuten kann, eine Verirrung, die ihn fort lockt von seinen Talenten, der künstlerischen Sublimierung seiner Libido und Liebe, und in der totalen Hingabe an sie, ihn so dem kreativen Verfall und Vergessen überantwortet. In der Beziehung von Roth und Iannone besteht diese Gefahr aber nicht. Hier wurde ihre Liebe und Hingabe selbst zum künstlerischen Sujet, das sich fortan im Werk Iannones widerspiegelt, während sich die Depression in Roths Kunst vom drückenden, engen Material befreite und zur philosophischen Erkenntnis transzendierte.

Für Dorothy war Dieter die Muse, die ihre Kreativität beflügelte, die sie von allen Hemmungen befreite und sie zu einer radikalen Künstlerin werden ließ. Für einen mittellosen und maßlosen, von Süchten und Selbstzweifeln geplagten Bohemien wie Roth gab sie ihr bürgerliches Leben auf und fand in der Liebe zu ihm die größte Antriebskraft ihrer Kunst. Diese Liebe - eine wahre ars amandi - versetzte sie in Euphorie, Ekstase und fast religiöse Verzückung, während ihr Geliebter eher vom Vergänglichen, Verderblichen, Morbiden, Zerstörerischen und Selbstzerstörerischen im Leben und in der Kunst fasziniert war.

Während Dorothy Iannone in Dieter Roth ihre Muse gefunden hatte, die sie bis heute inspiriert und zu einer Meisterin erotischer Kunst werden lässt, ist der Einfluss, den sie auf den Universalkünstler hatte, der in seinen Bildern, Grafiken, Objekten, Büchern, Gedichten, Foto- und Videoinstallationen vor allem die Vergänglichkeit, das Kaputte, Kranke, Verderbliche und Weggeworfene thematisierte, nicht leicht zu fassen. In seiner Zeit an der Seite der "Löwin“, wie er seine amerikanische Geliebte nannte, entdeckte er verderbliche Materialien, wie Lebensmittel (Wurst, Käse, Zucker, Schokolade, Obst, Gewürze), die er in Plexiglas oder Kunstfolie presste, wo sie sich langsam auflösten, verfärbten oder verschimmelten.

Der stilistische und handwerkliche Unterschied zwischen den beiden Liebenden, die die Kunst zu ihrem Lebensinhalt machten, könnte kaum größer sein. Seine Werke strotzen zwar vor Kraft und Energie, sind aber kompositorisch streng geordnet und ihre Farben, wirken sie noch so expressiv, erscheinen gedämpft und gebrochen. Dorothys farbenfrohe oder schwarzweiße Bilder und Zeichnungen dagegen, die der Art Brut oder Psychedelik zugerechnet werden können, sind ein Hohelied auf die Liebe und das Leben. Während Dieters Antrieb die Wut und Dekonstruktion zu sein scheinen, glänzt Dorothys Werk vor Unbekümmertheit, Üppigkeit, Lust und Wonne. Iannones gemalte Bilderbuchpaare aus der Zeit mit und nach Dieter zeigen vor allem, dass sie - als die eigentliche Liebesgöttin - die Verkörperung des sich selbst auffindenen ewig Weiblichen ist, wogegen er die Rastlosigkeit und ewige Suche des Männlichen verkörpert.

Roths Kunst, die sich melancholisch-heiter mit den Unzulänglichkeiten und der Endlichkeit des eigenen Lebens beschäftigt, sieht in Bezug auf seine Partnerin aus wie eine Liebe im Postkartenformat. Weil er ein Nomadenleben führte und aus familiär-beruflichen Gründen ständig zwischen Reykjavik, Basel, Stuttgart und London pendelte, schickte er seiner Geliebten in den gemeinsamen Jahren 66 Postkarten, kleine Poeme des Alltags mit banalen oder geistreichen Zeilen, mal witzig, mal traurig oder verzweifelt, mit besten Grüßen, Liebesschwüren, leidenschaftlichen Gedichten oder der Bitte um Einlösung eines Schecks. Abgesehen von der Textebene, die den Alltag, die Sorgen und die Sehnsucht des reisenden Künstlers widerspiegelt, sind sie faszinierende kleine Kunstwerke, Ready Mades, die seine unverkennbare Handschrift tragen. Roth, den seine Erfolgslosigkeit als Schriftsteller frustrierte, meinte einmal: "Meine Hauptarbeit ist Bücher schreiben gewesen. Die Objekte habe ich gemacht, damit ich Geld bekomme, denn vom Schreiben konnte ich nicht leben.“

"Der König ist tot, lang lebe sein Werk“, schrieb Iannone 2000 auf ihrem Bild "Miss my Muse“, zwei Jahre nach dem Tod ihres einstigen Geliebten. So sind die Bilder und Objekte, die die amerikanische Autodidaktin während ihre gemeinsamen Zeit mit Dieter Roth kreiert hatte, aber auch spätere Kunstwerke, darunter eigenartige Bild-Schrift-Klang und Videoinstallationen, eine Hommage an den Mann, der ihr so viele Sinnesfreuden bereitete, ein Lobgesang auf die Erotik als Ausdruck der göttlichen Vereinigung zwischen Körper und Geist. Mit Dorothy Iannones Worten: "Liebende kennen keine Tabus und keine Prüderie. Wenn man sich liebt, dann ist alles erlaubt".

Zurück