Die nackte Wahrheit in den Staatlichen Museen zu Berlin

05.06.2013 13:57

Collect. Gerard Levy Paris

Immer wieder aufs neue inspirieren nackte Körper und künstlerische erotische Darstellungen Künstler zu ihren Kreationen. Schon im angeblich sexualfeindlichen Mittelalter bewunderten Michelangelo, Caravaggio, Tizian und andere Meister die natürliche Schönheit des Menschen und verewigten sie in ihren klassischen Gemälden, wenn auch religiös und mythologisch verbrämt. Zum Beginn der Neuzeit findet dann eine technisch/künstlerische Revolution durch die Fotografie statt - auch für die erotische Kunst. Um 1900 boomt eine verspielt/verschämt/verschmitzte Aktfotografie und ist in den Medien allgegenwärtig. Damals wurden die Grundlagen für die öffentliche Entfaltung eines facettenreichen Bildtyps geschaffen, der heute unseren Alltag prägt wie kaum ein anderer. Die Ausstellung „Die nackte Wahrheit und anderes“ - zu sehen noch bis 28. August in den Staatlichen Museen zu Berlin, präsentiert die erstaunliche Vielfalt der fotografischen Abbildungen des nackten, enthüllten (vor allem weiblichen) Menschen jener Zeit.

 

Zwei nackte Grazien reiten auf einem Karussell-Schwein, frech arrangiert und anzüglich fotografiert von unbekannter Hand. Trotz des heißen Themas blieb man durch Distanz, Ironie und Folklore "moralisch unversehrt", bemerkt dazu Moritz Wullen, Direktor der Kunstbibliothek, bei der Vernissage zur Ausstellung.Vor rund 100 Jahren war Aktfotografie noch eine künstlerische Nische, die sich jedoch sehr schnell ausbreitete. Aus heutigen Medien ist die Inflation an Fotografien, welche die damals vorherrschenden Karikaturen stetig und erbarmungslos verdrängte, nicht mehr wegzudenken; diese vor allem Licht, Schatten, Inszenierung und Zoom huldigende Technik mit ihrem hyperrealen, seziererischen Blick und einem anonyme Körperlandschaften feiernden Gestus.

Der fotografische, noch personalisierte Akt um 1900 erscheint vor allem als reproduzierbares Medium auf Postkarten, Zigarettenschachteln, Plakaten, Zeitschriften, als Werbeträger, Künstlervorlage, Sportler-Ansporn, Lehrbild und Sammelobjekt. In der großen Menge des Materials lassen sich Gruppen rund um die Begriffe der Massenware bilden, so etwa die Seh(n)süchte (Arkadien, Erotik und Pornografie), der Körper im Blick der Wissenschaft (Ethnografie, Bewegungsstudien, Medizin), der Körperkult (Reformbewegungen, Freikörperkultur und Bühnenakte aus Sport und Varieté) sowie natürlich der Kunstkontext mit den Akademien und Druckwerkstätten. Das wohl wichtigste Merkmal des Bildes vom nackten Menschen in jenen Jahren ist das deutliche Ausloten der technischen Möglichkeiten des neuen Mediums und damit einhergehend, das zurückweichen der persönlichen Beziehungen zwischen Künstler/Fotograf und seinem Model.

Der Handel bzw. Austausch von Aktfotografien florierte europaweit. Dies belegen neben Schätzen und Fundstücken aus der Sammlung auch Fotografien der Kunstbibliothek sowie bedeutende Leihgaben vieler Institutionen aus Europa, von der Bibliothèque nationale de France bis zum Polizeimuseum Niedersachsen. Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen im Nicolai Verlag, herausgegeben von Ludger Derenthal, Christine Kühn und Kristina Lowis, mit Beiträgen von Jens Dobler, Angela Lammert, Kristina Lowis, Michael Ponstingl und Bernd Wedemeyer-Kolwe.

Die Kuratoren Ludger Derenthal und Christine Kühn belegen eindrucksvoll die These, dass in der Aktfotografie um 1900 ein medialer Umbruch stattfand, der fotografische Akt wurde öffentlich: erotische oder offen pornografische Posen, Varieté und Körperkultur wechseln in diesem Bildband einander ab. Mit mehr als 100 qualitativ hochwertigen Fotografien werden in der Ausstellung die faszinierenden Versuche der Jahrhundertwende gezeigt, Schamhaftes und Schamloses ins Bild zu setzen, sich von Konventionen zu befreien und neue entstehen zu lassen. Die Rückkehr zu den Anfängen der aktuellen Flut von Aktbildern bietet überraschende Einblicke in die fotografische Beschäftigung mit der Nacktheit.

"Die nackte Wahrheit und anderes - Aktfotografie um 1900" in den Staatlichen Mussen Berlin ist zu sehen bis zum 25. August 2013 im Museum für Fotografie, Jebensstraße 2, 10623 Berlin (Nähe Zoologischer Garten), Öffnungszeiten sind Di - So 10-18, Do bis 20 Uhr, Mo ist Ruhetag. Weitere Infos unter Tel.: 030 / 266424242 (Mo - Fr 9 - 16 Uhr).


tl_files/liebreiz/bilder/allgemein/Otto Skowranek - Olga Desmonds Schwertertanz.jpg

Zurück