Uns fehlt eine Ars Erotica

08.03.2011 17:08

Khajuraho-Lakshmana-Tempel

Die Widersprüche zwischen unserem individuellen, sexuellen Begehren und seiner kommerziellen Ausbeutung und Vermarktung innerhalb unserer Gesellschaft sind offensichtlich, augenfällig, widerwärtig und obszön vor allem in ihrer Billigkeit. Normalerweise genießen wir Menschen die Macht der Liebe, lernen unseren Körper und dann die Sinnlichkeit kennen, entwickeln erotische Phantasien und entdecken unsere Lust und den Spaß beim Spiel und den Berührungen mit anderen Menschen und ihren Körpern.

 

Solange wir nicht dem Pech und Elend der Welt und dem Haß sexuell perverser und psychopathischer Mitmenschen ausgeliefert waren, meist Angehörige oder Schutzbefohlene, oder von den zahllosen Agenten des Bösen und der Staatsmacht, welche ausgeschwärmt, um uns zu beleidigen, zu demütigen, zu drangsalieren, uns zu bestrafen, - solange wir also nicht vom erbarmungslosen Unglück zerbrochen wurden, von gewaltigen Traumata entsetzt, oder von der Verachtung missgünstiger Anderer verstoßen, solange haben wir das Glück gehabt, eine normale sexuelle Entwicklung und Reifung erleben zu können, zumindest ungefähr seit der kulturellen Moderne.

Machen wir uns nichts vor. Wir stammen aus einer feindlichen, gewalttätigen, sexuell hochgradig repressiven und unterdrückerischen Kultur. Da braucht mensch nur mal die Bände "Überwachen und Strafen" sowie "Sexualität und Wahrheit" des großartigen Analytikers und Philosophen Michel Foucaults gelesen zu haben. Aber nicht nur da ist unsere Kulturgeschichte ein alptraumartiges Szenario und Zeugnis abscheulicher Verbrechen gegen Verstand und Menschlichkeit. Im Namen von Kirche, Staat und bigotter Herrschaftsmoral wurde Jahrhunderte lang versucht, Selbstbestimmung, Subjektwerdung (gegenüber einem hilflosen Objekt im Angesicht des Schicksals) und Individualisierung sowie Emanzipation des Menschen durch eine freie und friedliche Sexualität um jeden Preis zu brechen und zu verhindern.

Die chauvinistische Spaltung zwischen den Geschlechtern und die manifeste Entrechtung der Frauen kam in Deutschland bekanntermaßen erst 1919 politisch zum Erliegen, als Frauen damals am 19. Januar erstmals ihre Stimmen zur Wahl der Deutschen Nationalversammlung abgeben konnten. Aber im Grunde ist unsere Gesellschaft von einer politischen Gleichstellung der Geschlechter immer noch weit entfernt, wie aktuelle Debatten über eine Frauenquote in den Konzernführungen belegen. Dabei ist natürlich die gleiche Augenhöhe zwischen den Geschlechtern und eine Gleichstellung sexueller Dispositionen, mithin ihre bedingungslose Akzeptanz, schon Grundbedingung für die Entwicklung einer gewalt- und herrschaftsfreien Sexualität, und somit für eine Entwicklung der Gesellschaft hin zu einer vielfältigen, solidarischen, nachhaltigen und friedvollen Welt, wo die Macht der Liebe herrscht und Alte, Junge und Erwachsene gleichermaßen ihre Lebenslust genießen.

Was viele mit Lust und Liebe verwechseln, sind die verschwenderischen Eskapaden der Sex- und Pornoindustrie mit ihren Milliarden-Gewinnen. Sicher ist es kein Glück und keine Freude für die Beteiligten, sich in Nachtclubs allabendlich auszuziehen, sich zu prostituieren, sich in Filmen, dem Leistungsdiktat unterworfen, abzurackern und sich halb tot ficken zu lassen, oder langsam im Sumpf der kapitalistischen Halbwelten abzusaufen. Es führte auch kein Weg von der sexuellen Befreiung von 1969 direkt in die Pornohölle, weil Porno und Perversion gab es auch schon vorher, nur versteckter. Aber die Pornoindustrie hat sich das sexuelle Aufbegehren sofort zu Nutze gemacht und Aufklärung und Emanzipation schneller assimiliert und in den Verwertungskreislauf eingespeist, als dass die jungen Leute ihre Orgasmusfähigkeit entdecken konnten.

Die heutige Sexualität ist korrumpiert von Leistung und Erfolg, von Imponiergehabe und Unterwerfung, unmenschlichen Ausbeutungsverhältnissen und perversen Machtverstrickungen (im Grunde geht es bei jeder Perversion um die Ver-objektivierung, also Verdinglichung von Persönlichkeiten und Subjekten). Moralwächter und Medien helfen leider mit, diese flache Obszönität und falsche, eindimensionale Sexualität zu manifestieren, indem die abseitigen und perversen Auswüchse überhöht werden, wogegen die Aspekte von Liebe, Sinnlichkeit und Sensitivität abgewertet, problematisiert, verlacht und verleugnet bleiben

In einem Interview mit dem Spiegel gab der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch zu bedenken, dass wir es in Westeuropa im Gegensatz zu altertümlichen Kulturen wie im antiken Griechenland, in Indien zur Zeit des Kamasutras oder in Japan, versäumt haben, eine Ars Erotica zu entwickeln und zu pflegen, die es den nach wie vor verwirrten heutigen Jugendlichen ermöglichen würde, einen Zugang zu einer gesunden, reifen, sorgenfreien und üppigen Sexualität zu finden, die nicht von Verwertungs- oder Reproduktionsmechanismen zerschreddert und zerstückelt wird.

"Unsere Kultur hat keine Ars erotica entfaltet. (...) Ich behaupte, wir sind sexuell immer noch eine weitgehend unwissende Gesellschaft. Wir reden falsch und oberflächlich über Sexualität. Und wenn man zu viel redet, besteht die Gefahr, das Geheimnisvolle zu zerstören. (...) Es ist wichtig für ein Paar, über seine sexuellen Vorlieben zu sprechen. Auf der anderen Seite sollte die Aura des Geheimnisvollen bestehen bleiben." (Volkmar Sigusch im Spiegel, 28.02.2011)

Eine Ars Erotica soll also her, eine Kultur der Sexualität und Erotik, welche die Geschlechter im Sinne der gegenseitigen Ergänzung und der Liebe vereint, und die das Empfinden für die Komponenten eines lebenslangen Liebeslebens fördert, die Gesundheit, das Essen und Trinken, die Wohnung, die Kleider, das Bett und den Schmuck, und das Bewußtsein dafür, dass nur alles zusammen, der Mensch und sein Begehren nur in der Ganzheit, ihre Erfüllung und Befriedigung erfahren, aber niemals verzweifelt, zerrüttet, isoliert und getrennt. Zu solch einer Ars Erotica gehören das Geheimnis - nicht das Tabu, und dazu gehören Geschmack, Hingabe, Kreativität und Schönheit, genauso wie Vertrauen, Eloquenz, Charme und Authentizität. In dieser Hinsicht wünsche ich mir, dass die Erotische Kunst hier sogar zu einem akzeptablen Tauschwert für eine zukünftige Ars Erotica, eine freiheitliche Kultur der Erotik und Sexualität, avancieren wird.
 

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