Der Akt als Spiegelbild des Künstlers

29.05.2014 20:21

Raffael - Galatea (1512)

Für viele Kunstliebhaber ist der antike Narziss, wie er sein einmalig schönes Ebenbild sich im Wasser spiegeln sah, und der sich später in eine Blume verwandelte, der Inbegriff des Künstlers. Es ist weniger die - natürlich ebenso vorhandene - Selbstverliebtheit und Exhibition des Modells, die den Maler zu verführen sucht, auf dass er ihre Erotik in diesem einen, feinen und unvergleichlichen Moment veredele und für die Nachwelt auf Leinwand banne. Es ist vielmehr der Narzissmus des Schaffenden, der sich seines lustvollen Objektes bemächtigt, mit dem er sich vor allem selbst begehrt, seiner eigenen Leidenschaft frönt und seinem eigenen Wunschstern folgt, wenn er aus dem Ton ihres Körpers und aus den Spektralfarben ihrer Ausstrahlung sein allzueigenes und idealisiertes Schönheitsbild formt.

 

 

Spiegelbild

"Das Modell ist für mich ein Sprungbrett, es ist eine Tür, durch die ich hindurchgehen muss, um in den Garten zu gelangen, in dem ich alleine bin und mich wohl fühle, selbst das Modell existiert für mich nur insoweit, wie es mir nützt. Was für mich das Wichtigste ist? So lange an dem Modell zu arbeiten, bis ich es ausreichend in mir aufgenommen habe, um improvisieren zu können, meiner Hand freien Lauf zu lassen und an den Punkt zu gelangen, wo ich die Größe und den geheiligten Charakter allen Lebens respektieren kann." (Henri Matisse)

Nach Jaques Lacan findet das Menschenkind im Rahmen des so genannten 'Spiegelstadiums', das sich ungefähr ab dem sechsten Lebensmonat ereignet, zu seiner eigenen Identität und Subjektivität, im Unterschied zur ursprünglich als symbiotisch empfundenen Beziehung mit der Mutter. Dieses erstmalige Erkennen seiner Selbst im Spiegel bildet jenen späteren, sekundären Narzissmus aus, wie er allen Menschen mehr oder weniger ausgeprägt ihr Leben lang eigen sein wird. Jeder Künstler als Narziss malt immer an seinem Selbstporträt, auch wenn er eine schöne, nackte Frau - oder ebensolchen Mann - malt, die sich ihm als Modell darbieten. In der intensiven, filigranen und einfühlsamen Bearbeitung des künstlerisch geformten oder gemalten Körpers schimmert immer auch der Körper, das Unbewusste und das Begehren seines Schöpfers durch. Auch Gott schuf die Menschen nach seinem Ebenbild, wie wir aus der Religion wissen. In ihrem Buch "Verführung - Künstler und Modell" schreibt France Borel dazu:

"Das Kunstwerk speist sich aus dem Begehren des Künstlers: aus der Sehnsucht nach dem anderen, nach dem Modell, der nackten Frau, die vor ihm posiert, und aus der narzisstischen Sehnsucht nach sich selbst. Der schöpferische Akt ist zutiefst ein Liebesakt. Die Malerei und die Skulptur bestehen aus erogenen Zonen, aus taktilem Material. In ihrem Wesen nehmen sie menschliche Form an. Sie sind eine Art Fetisch, sie dienen zugleich als Ersatz und Transportmittel für die körperlichen Projektionen. Sie entstehen aus dem Körper ihres Schöpfers und machen sich selbstständig, um sich als Vermittler des Genusses dem Betrachter darzubieten."

Umrisse

Einer kunsthistorischen Legende zufolge soll es ein einäugiger Kyklop gewesen sein, dem wir das erste menschliche Porträt verdanken - ein Selbstporträt. Er hielt sich in den Bergen auf und nahm ein Stück Holzkohle zur Hand, um seinen eigenen Schatten auf der Felswand nachzuzeichnen. Als er, die Sonne im Rücken, seine Schatten-Silhouette fast umrissen hatte, vermeinte er plötzlich erschrocken, seine Mutter Gaia mit erhobenem Nudelholz aus der Höhle auf sich zu rennen zu sehen... Bedeutet der Schöpfungsakt des Künstlers nicht auch, das Vergängliche in seiner höchsten Manifestation festzuhalten, ein Monument der Erinnerung zu errichten und dadurch ein kleines Stückchen Unsterblichkeit zu erlangen? Und ist dabei die erotische Kunst in ihrem ganzen Reigen aus Liebe, Lust und Leidenschaft nicht auch der sehnsüchtige, nach den Sternen greifende Versuch, die ewige Bedrohung durch einen anonymen, jähen, verschlingenden Tod zu überwinden und aufzulösen, in den wuchernden Eskapaden des sich wollenden Fleisches.

Im Schweiße seines im Anlitz des Modells gespiegelten Angesichts, womöglich mit seinem eigenen Blut und Sperma nicht nur im übertragenen Sinne, wie der Wiener Aktionskünstler Hermann Nietsch, vollbringt der schaffende, liebende/leidende Künstler sein Werk. In der Renaissance wurden nicht selten die Künstler, welche durch die erstaunliche, realistische Wirkung berühmt geworden waren, die sie mit der Darstellung der Haut erzielt haben, wie zum Beispiel Tizian oder Caravaggio, bezichtigt worden, ihren Pigmenten nicht nur wie üblich Ei oder Pflanzensäfte, sondern vor allem ihr Blut und Sperma beigemischt zu haben, als ob jene fruchtbaren Substanzen ihres Seins alleine nur die unglaubliche Vitalität und Sinnlichkeit ihrer Kunst erklären könnten.

Paul Klee spricht dieses Spannungsverhältnis des Künstlers aus Authentizität und Imagination in seinen Tagebüchern an. Der Künstler füllt das Bildmotiv mit Energie und Samen. Das Kunstwerk als energische Schöpfung, Verwirklichung und Konstruktion einer materiellen Form ist zutiefst weiblich, meint Klee, das Kunstwerk als Samen, zusammengebraut aus Inspiration, Wille, Drang, demgegenüber zutiefst männlich.

Inhalte

Es gibt keinen Künstler und keinen Menschen, der ausschließlich nur männlich oder weiblich ist. Immer handelt es sich um eine subtile Mischung der beiden Geschlechter. Es ist die gegenseitige Durchdringung der beiden Prinzipien, im besten tantrischen Sinne des Ausgleichs zwischen Yin und Yang, aus der auch das Kunstwerk hervorgeht und das eben den nackten Körper zu seinem wichtigsten und ewigen Thema hat.

Der Künstler wählt sein Modell nach dem Typ den er in sich trägt, zumindest soll es diesem Typus ähnlich sein. "Das Kunstwerk webt sich in die Haut eines Schöpfers ein, als ein Double des Fleisches", sagte Jean Paul Sartre. "Madame Bovary bin ich", meinte Gustave Flaubert, und auch Nietzsche fabulierte von dem Blut der Schrift, das gleich bedeutend mit dem Geiste sei. Aus diesem Double oder Alter Ego, diesem metaphorischen Körper, der ein Auffangbecken für ihre Träume und geheimsten Wünsche ist, formen Künstler sowie Künstlerinnen dann ihr allgegenwärtiges Leitmotiv - der Körper beim Begehren, Erleben und Erleiden in der Welt der unmöglichen Zumutungen.

Der Körper ist das Kernstück der abendländischen Ikonografie. Der Künstler bekleidet oder entkleidet ihn nach Belieben, vervielfacht seine Erscheinungsweisen, kehrt immer wieder zu ihm zurück, manipuliert ihn und inszeniert ihn stets auf Neue. Er deckt ihn mit allen erdenklichen künstlerischen Mitteln ein und setzt ihn in die unmöglichsten Beziehungrn, die ihm in den Sinn kommen. Er geht sogar so weit, ihm die Haut abzuziehen, um die Muskulatur besser kennen zu lernen, wie in den anatomischen Studien des Michelangelo, und schließlich auch noch die Muskeln zu entfernen, um das Skelett besser zu sehen, wie es in den Bildern Frida Kahlos exemplarisch wird.

Deformationen

Alle anatomischen Deformationen in der Kunst symbolisieren Protzerei und Überhöhung, aber auch Verzerrungen und Verletzungen, welche die Künstler wohl zuerst an sich selbst aufgespürt haben. Nicht nur an den Figuren mit ihren athletischen, überproportionalen Gliedmaßen und Muskeln (sogar bei den weiblichen Figuren), beispielsweise auf den Fresken in der sixtinischen Kapelle, erkennen wir die Projektion des klassischen (männlichen) Heldenideals. Auch in den üppigen und sinnlichen Formen Peter Paul Rubens zeigt sich der weltgewandten Genussmensch, sowie sich in den zarten, mandelförmigen Gesichtern des Amadeo Modigliani wiederum die Labilität und Schwindsucht spiegelt.

Denken wir an die lang gezogenen Silhouetten bei El Greco, die dürren Gestalten von Giacometti oder an die verblühten, gebrochenen Prostituierten mit den roten Haaren bei Toulouse-Lautrec und Otto Dix. Ebenso die automatenhaften, gepanzerten Riesinnen von Richard Lindner, die lüsternen Lolitas und Nymphen bei Balthus, oder die in Zellophan gepackten Pin-Ups eines Tom Wesselmann, sie alle verdanken sich der Suche des Künstlers nach seinem Double, seinem Alter Ego, nach seinem Spiegelbild in der Welt. Da der Künstler weiss, dass er niemals ein lebendes Modell finden wird, das vollständig mit seinen Vorstellungen überein stimmt, hat er letztlich keine Bedenken, die Anatomie mit seinem Pinsel oder dem Meißel zu zerlegen, zu glätten und zu zerfurchen.

In der Ekstase und Impulsivität seiner Kunst lässt der neue, moderne Schöpfer die Körper blühen und verwachsen, manche lang gezogen, andere verkürzt oder verdichtet, in Stücke zerlegt, aufgedunsen oder gar zerborsten, wie Pablo Picasso, Salvatore Dali, René Magritte,.Francis Bacon oder Lucian Freud es im 20. Jahrhundert getan haben, jeder auf seine ureigene Art, auf der Suche nach der eigenen Körperlichkeit und Wahrhaftigkeit. Analog zum Menschenmaterial generierenden Todestrieb des kapitalistisch-industriellen Totalitarismus im 20. Jahrhundert, waren solche Künstler selbst oft der glänzendste, genaueste und schärfste Spiegel ihrer Gesellschaft. Manche sind sogar so weit gegangen, dass sie nur noch den Teilen des Körpers Interesse entgegen gebracht haben, die ihnen am besten gefielen, um sich fortan wie besessen ganzen Serien nur aus Brüsten, Mösen, Penissen oder Pos zu widmen, etwa Allen Jones, Andy Warhol, Helmut Newton, Robert Mapplethorpe oder Jeff Koons.

"Für mich ist die Natur immer da. Es ist mit ihr genauso bestellt wie mit der Liebe: Es kommt alles darauf an, was der Künstler auf das, was er sieht, unbewusst projizieren kann. Viel mehr als von der Gegenwart eines lebendigen Menschen vor seinen Augen, hängt es vom Wert dieser Projektion ab, ob er Leben schafft." (Henri Matisse)

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